Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

 

Der heilige Vinzenz von Paul - 27. September

 

Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?"

 

Mit dieser Frage sehen wir im Evangelium einen reichen Jüngling zum Heiland kommen: "Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?" - "Halte die Gebote! Willst du vollkommen sein, so verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen!" - Unbefriedigt von dieser Antwort des Heilands ist dieser Jüngling traurig davongegangen.

 

"Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?" Was ist es doch um diese Frage! Sie ist die wichtigste im Menschenleben und erfordert gebieterisch eine Antwort. Und es war das tiefste Bedürfnis des Menschenherzens, dem der Heiland entgegenkam, als er in seiner Bergpredigt die acht Wegweiser aufstellte zum ewigen Leben.

 

"Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?" Kaum ist der reiche Jüngling weggegangen, da kommt ein anderer, ein Gesetzeslehrer, und wieder fragt er: "Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?" Und der Heiland bleibt auch ihm die Antwort nicht schuldig.

 

In herrlicher Gleichnisrede führt er den Gesetzeslehrer hinaus an den Weg, der von Jerusalem nach Jericho hinabführt. Dort liegt ein armer Wandersmann, der unter die Räuber gefallen ist, blutend aus vielen Wunden. Ein Levit kommt, sieht ihn und geht vorüber. Ein Priester kommt, sieht ihn und geht vorüber. Ein reisender Samaritan aber, der des Weges kommt, geht voll Mitleid hinzu, verbindet seine Wunden, hebt ihn auf sein Lasttier, führt ihn in die Herberge und sorgt für ihn. - "Gehe hin und tue desgleichen!" so schließt der Heiland die Parabel, "dann wirst du das ewige Leben erlangen" (Lukas 10,25 ff). 

 

Wie der Gesetzeslehrer das Wort des Herrn aufgenommen hat, ob er dem Ruf gefolgt oder ob auch er, wie der Jüngling, traurig davongegangen ist, darüber berichtet das Evangelium nichts.

 

Aber das Wort hat gezündet.

 

Der Funken, der dort vor 2000 Jahren auf die Erde gefallen ist, hat unzählige Menschen ergriffen und entflammt. Tausende schon haben den Geist des barmherzigen Samaritans in sich aufgenommen und unsere Betrachtungen über die Seligpreisungen sind besonders ausgezeichnet durch die Namen solcher Heiligen, die als Apostel Christi im Dienst der Nächstenliebe über die Welt gegangen sind und auf dem Weg der Barmherzigkeit das ewige Leben erlangt haben.

 

Wir wollen von den vielen Heiligen, die Hand in Hand auf dem Weg der Barmherzigkeit dem Himmel entgegengehen, hier nur einen herausnehmen und sein Leben näher betrachten, nämlich den heiligen Vinzenz von Paul.

 

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren trübe Zeiten angebrochen. Die menschliche Gesellschaft blutete aus vielen Wunden. Der Leib der Kirche war durch den großen Abfall in vielen Ländern zerrissen. Krieg, Seuchen und Hungersnot lastete schwer auf den Völkern Europas.

 

Mitten in diesem leiblichen und geistigen Elend erweckte der Herr einen der größten Apostel der Liebe, den heiligen Vinzenz von Paul. Armen Bauersleuten zu Ranquines im südlichen Frankreich wurde das Kind im Jahr 1576 geboren. Bis zu seinem 12. Lebensjahr hütete der kleine Vinzenz die Herden seines Vaters. Da gelang es ihm endlich, bei den Franziskanern der benachbarten Stadt Aufnahme zu finden. Mit Eifer oblag der talentvolle Junge hier seinen Studien, die ihn später auf die hohen Schulen von Saragossa und Toulouse führten. Zum Priester geweiht feierte er in einer einsamen Waldkapelle seiner Heimat im Jahr 1600 sein erstes heiliges Messopfer.

 

Bei einer kleinen Seereise von Marseille nach Narbonne fiel der junge Priester in die Hände der Seeräuber, die ihn nach Tunis brachten und dort auf dem Sklavenmarkt verkauften. Ein Renegat, ein zum Islam abgefallener Katholik, wurde sein Herr und schickte ihn hinaus auf seine Güter, den Acker zu bestellen. Doch des heiligen Priesters Wort und Beispiel übten einen so gewaltigen Einfluss auf seinen Herrn, dass der Abtrünnige in sich ging und gemeinsam mit seinem Sklaven nach Europa zurückkehrte, wo er reuevoll den Irrtum abschwur und sich wieder in den Schoß der Kirche aufnehmen ließ. 

 

Für unseren Heiligen begann nun eine Reihe von Wanderjahren. Bald finden wir ihn in Rom, bald als Seelsorger zu Clichy, einer armen Vorstadt von Paris, bald als Pfarrer zu Chatillon, einer durch die Kriegsnot ganz zugrunde gerichteten, verwahrlosten Gemeinde in der Diözese Lyon. Mehrere Jahre lang wirkte er als Erzieher in der Familie des Grafen de Gondi, des Großadmirals der königlichen Flotte, und fand hier Zugang zu den Galeeren, wo die größten Verbrecher an Ketten geschmiedet auf den Ruderbänken saßen und ihre harte Fronarbeit verrichteten. Endlich berief ihn die Königin Anna, die Mutter Ludwigs XIV., in ihren geheimen Rat und machte ihn zu ihrem Vertrauten in allen Dingen, die die Kirche und die christliche Liebestätigkeit betrafen.

 

So hat Gott seinen Apostel sich herangezogen. So lernte Vinzenz von Paul die Welt kennen mit all ihren Nöten und Bedürfnissen: daheim im Elternhaus schon die Armut und die Sorge ums tägliche Brot, in Afrika drüben die schreckliche Lage der armen Sklaven, zu Clichy das Elend der Großstadt, auf den Galeeren all den Jammer der Sünde und des Verbrechens. Dieses Elend in seiner hundertfältigen Gestalt, das war das Arbeitsfeld, auf das Gott den heiligen Vinzenz berufen hatte. Und wenn der Apostel Paulus einmal schreibt: "Verschieden sind die Gaben, verschieden sind die Ämter, die der Geist Gottes verleiht" (1. Korinther 12,4), da war unseres heiligen Vinzentius Gabe ein unermesslicher Schatz von Liebe und Barmherzigkeit, dann war sein Amt, Hilfe zu bringen all den Armen und Verlassenen.

 

Und wie hat er dieses Amt ausgefüllt und mit dieser Gabe gewirkt? Dazu reichen die Minuten nicht, auch nur das Größte davon aufzuzählen. Zeugen seiner Liebe und seines Eifers sind alle die großartigen Stiftungen, die er ins Lieben rief. Die Waisen- und Findelhäuser für die armen Kleinen, die er auf den Straßen von Paris auflas, die Spitäler für die Alten und Kranken jeglicher Art. Zeugen sind seine Pfarrkinder zu Chatillon, die sich um seine ärmlichen Kleidungsstücke als Andenken rissen, als er sie verlassen musste. Zeugen sind die zahlreichen Bekehrungen unter den Galeerensträflingen, die seine Liebe, Sanftmut und Geduld herbeiführten. Zeuge ist die Genossenschaft von Missionspriestern, die er zur Seelsorge in der Heimat und in den Heidenländern gegründet hatte. Zeugin für den heiligen Vinzentius ist heute noch jede barmherzige Schwester, die in ihrem weißen Schleier durch unsere Straßen geht oder Nachtwache hält an den Betten unserer Kranken; mit heiligem Stolz nennt sie sich eine geistliche Tochter des heiligen Vinzenz von Paul. 

 

Es klingt fast unglaublich, was Vinzentius getan hat in jenen schweren Zeiten, da der Dreißigjährige Krieg seine Wellen auch nach Frankreich hinüberwarf. Nicht weniger als 50 Millionen Franken soll er an Geld zusammengebettelt haben, um es durch seine Priester und Schwestern wieder an die Bedürftigen zu verteilen und dem Hunger und der Not zu steuern.

 

Als einmal in jenen Kriegszeiten die Mittel für das große Waisenhaus ausgingen und die adeligen Damen mit ihrer Hilfe versagen wollten, da rief sie der Heilige zusammen und sprach zu ihnen: "Sie waren bisher die Mütter dieser armen Kleinen, jetzt sind Sie deren Richter; entscheiden Sie, ob die Kleinen leben oder sterben sollen." Und die Tränen, in die die ganze Versammlung ausbrach, zeigten deutlich genug, dass die Herzen erweicht und das Waisenhaus gerettet war.

 

So hielten ihm seine Liebe und sein Gottvertrauen allzeit die Schatzkammern und Reichtümer der göttlichen Vorsehung offen, mit denen er die großen Gedanken seines Herzens verwirklichen konnte. So ist aus dem Kind armer Leute ein Vater der Armen geworden.

 

Wenn es den Ruhm der heiligen Martyrer ausmacht, dass sie abgebildet werden mit dem Zeichen ihrer Peinigung; wenn die Steine in der Hand des heiligen Stephanus und das Schwert in der Hand des heiligen Paulus ihre Zierde sind; wenn die Lilie in der Hand des heiligen Aloysius seinen Ruhm verkündet; ja wenn der heilige Antonius gar mit dem Jesuskind selbst auf den Armen abgebildet wird: dann ist der Ruhm unseres heiligen Vinzentius das arme Würmlein, das er an seine Brust drückt, dann ist seine Ehre das kleine Waisenkind das Schutz findet unter den Falten seines Mantels; denn "wahrlich ich sage euch", spricht der Herr, "was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Matthäus 25,40). 

 

Am 27. September 1660 entschlief er sanft im Herrn, mehr als 80 Jahre alt. Es war, da er starb, als ob mit seinem brechenden Herzen eine Welt der Liebe zusammenbräche.

 

Papst Klemens XII. nahm ihn im Jahr 1737 unter die Zahl der Heiligen auf. Auf keinen Würdigeren fürwahr konnte er das Wort des Herrn von der Bergpredigt anwenden, als auf unseren Heiligen: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

 

St. Vinzentius ist tot, aber er ist nicht ganz gestorben. Vinzentius ist tot, aber sein Geist lebt, weil er leben muss.

 

Vinzentius lebt und muss leben, solange es in der Welt Armut und Not, Elend und Verlassenheit gibt. Er muss leben, solange noch irgendwo ein Armer und Hungriger die Hände ausstreckt und um eine Gabe bittet. Er muss leben, solange noch irgendwo ein verlassenes Kind ist, das, seiner Eltern beraubt, nach Hilfe und Liebe verlangt. Er muss leben, solange noch irgendwo ein Kranker auf seinem einsamen Lager seufzt und der Pflege bedarf. Er muss leben, solange noch der Tod auf der Welt umhergeht und ein Sterbender bittet, ihm den kalten Schweiß von der Stirn zu wischen. Er muss leben, solange die Erde das Tal der Tränen bleibt und nach einem Stücklein Barmherzigkeit verlangt. Er muss leben, solange die Welt steht.

 

Vinzentius lebt und muss leben und man hat ihn mit Recht sogar Einen "ganz modernen Heiligen" genannt.

 

Man redet und schreibt heutzutage so viel von einer sozialen Frage und man versteht darunter das gegenseitige Verhältnis von Hoch und Nieder, Reich und Arm, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Obrigkeit und Untertanen, Regierung und Volk. Man will die ganze menschliche Gesellschaft von Grund aus umstoßen und auf einem ganz neuen Fundament aufbauen. Man glaubt, durch neue Formen und Gesetze, durch gleichmäßige Verteilung der Erdengüter alles Elend aus der Welt treiben und das verlorene Paradies auf Erden wieder pflanzen zu können.

 

Aber soweit solche Fragen sich überhaupt lösen lassen - denn "Arme habt ihr allezeit bei euch" (Matthäus 26,11) - hat der heilige Vinzenz von Paul am richtigen Ende zugegriffen. Er tat es, indem er nicht den Hass schürte und die Gewalt predigte, nicht indem er die einen gegen die andern aufhetzte, sondern er tat es, indem er sie in Liebe und Wohltun einander näherzubringen und zwischen beiden zu vermitteln suchte. Er tat es vor allem, indem er selber Hand anlegte, um die Wunden der Zeit zu heilen. Ein heiliger Vinzenz hat zur Milderung der Gegensätze in der menschlichen Gesellschaft mehr getan als tausend Volksbeglücker, die wohl große Worte im Mund führen, aber keine Taten aufzuweisen haben. Wer mit Erfolg an der Lösung der sozialen Frage mitarbeiten will, der muss gesalbt sein mit dem Geist eines heiligen Vinzenz von Paul.

 

Vinzentius lebt und muss leben und wenn er vor vierhundert Jahren nicht gelebt hätte, dann müsste er jetzt geboren werden, wo der Krieg das Elend tausend- und millionenfach in der Welt gemehrt hat, wo nicht mehr ein Kranker, sondern Millionen der Pflege bedürfen, wo nicht mehr ein Waisenkind, sondern Millionen auf Liebe warten, wo nicht mehr ein Hungriger und Nackter, sondern Millionen und Abermillionen auf fremde Hilfe angewiesen sind. Er lebt und geht auch in der heutigen Not wie in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges von Haus zu Haus und bittet bei jedem, der es vermag, um ein bisschen Barmherzigkeit, um eine Gabe für verlässliche Hilfsorganisationen, um ein Scherflein für die Verstümmelten durch Kriege, um Übernahme der Patenschaft für ein verwaistes Kriegskind, um einen Beitrag für unsere kirchlichen Hilfskollekten und wohltätigen Vereine, um Hilfe in irgendeiner Not. Er bittet um Barmherzigkeit und er bringt als heilige Gegengabe die Verheißung des Herrn mit: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

 

Ihr Christen! Lasst ihn ein, den heiligen Bettler um Barmherzigkeit, der in Jesu Namen bei euch anklopft. Irgendeine Not kennt jeder, der er beispringen soll. Irgendeine Gabe hat jeder, die er austeilen kann.

 

"Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist" (Lukas 6,36). Jede Gabe, die du dem Armen und Dürftigen spendest, legst du nieder in Christi Hand; mit jedem Kleidungsstück, das du dem Frierenden reichst, bekleidest du ihn; mit jedem Trunk Wasser, den du dem Durstigen gibst, stillst du seinen Durst; in jedem verlassenen Kind, das du aufnimmst, nimmst du ihn selber auf (Matthäus 18,5).

 

Er schreibt es dir gut im Buch des Lebens, was du an ihm und seinen Armen getan hast. Und wenn er wiederkommt in den Wolken des Himmels und alle seine Heiligen mit ihm, und wenn er sich niederlässt auf den Thron seiner Herrlichkeit, und wenn "das Buch wird aufgeschlagen, in dem alles eingetragen ist", dann werden auch deine Werke der Barmherzigkeit dort verzeichnet stehen und entscheidend in die Waagschale fallen für dein ewiges Geschick.

 

Schon hat er zum voraus die Gerichtsakten geöffnet und den Urteilsspruch des jüngsten Tages uns verlesen: "Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25,34-36.40)

 

Dort zahlt er mit Zins und Zinseszinsen heim, was du hienieden ihm und seinen Brüdern und Schwestern getan hast. Dort löst er mit überreicher Liebe sein Wort ein, das er in der Bergpredigt verpfändet hat: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Dort wird auch das kleinste gute Werk, das du getan hast, nicht unbelohnt bleiben. "Und wer einem von diesen Kleinen auch nur einen Becher frisches Wasser zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist - Amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen." (Matthäus 10,42)

 

Wenn du an des Grabes Rand alles zurücklassen musst, was du hienieden dir erworben hast; wenn sie dich ganz allein ziehen lassen und niemand von deinen Freunden und Bekannten mit dir geht in die Ewigkeit hinein: was du Gutes getan hast, geht mit dir und spricht für dich vor dem Stuhl des Gerichtes, wie der Heilige Geist es bezeugt: "Selig sind die Toten, die im Herrn sterben; ihre Werke folgen ihnen nach" (Offenbarung 14,13), "und die Barmherzigkeit erhebt sich wider das Gericht" (Jakobus 2,13).

 

"An manche aber gibt es keine Erinnerung, sie sind ausgelöscht, als ob sie nie existiert hätten. Sie waren, als wären sie nicht gewesen, so auch ihre Kinder nach ihnen. Aber diese waren Männer des Erbarmens, deren gerechte Taten nicht vergessen worden sind. Bei ihren Nachkommen hat es Bestand und ein gutes Erbe sind ihre Nachfahren. Ihre Nachkommen hielten an den Bundesschlüssen fest und ihre Kinder um ihretwegen. Bis in Ewigkeit haben ihre Nachkommen Bestand und ihr Ruhm wird nicht ausgelöscht." (Jesus Sirach 44,9-13)

 

"Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Amen. 

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