Marienlegenden deutscher Landschaften Teil 2

 

Die Flugsamen der mittelalterlichen Legendenmotive haben in den deutschen Landschaften Boden gefunden. Es ist kein Wunder, dass sie sich ansiedelten, zunächst an Plätzen, die seit grauem Alter dem Volk heilig waren. Es gibt in der Landschaft Orte, die von Natur aus dafür da zu sein schienen: Stille Berghöhen oder Wiesengründe, klare Quellen, einsame Wälder, Kreuzwege, die unter Baumschatten ehrwürdigen Alters wie von alleine den Wanderer zur Rast laden, in der Ebene erratische Blöcke, die einzigen Punkte, die dem Auge Ruhe bieten. Die Natur hat sie gleichsam vorbehalten, auf dass die Übernatur an ihnen wirke. Es blieb dem Menschen nur, dem starken Zug zu folgen. Die Alten hatten den Naturtrieb. (Man beschaue vergleichsweise nur die Burgenbauten, wie sie gleichsam die naturvorgedachte Krönung der Berge sind. Dieser Landschaftstrieb war lebendig bis zum Untergang der Volkskunst.) Bei den Zisterzienserabteien fällt auf, dass sie durchweg in einsamen, lauschigen Waldtälern erbaut wurden. Es liegt dem mehr zugrunde, als bloß eine Nachahmung oder ein von uns leicht schöngeistig gedeuteter Zug. Als die Natur durch den Menschen kulturgestaltet wurde, wuchsen neue heilige Orte, über den Weinbergen, im Herzen der Städte, jedenfalls immer im Brennpunkt der seelisch deutbaren landschaftlichen Linienströme.

 

Dass zu diesen natürlich vorbestimmten Orten die Menschen ihre religiösen Gefühle trugen, bei ihnen höhere Erbauung und Hilfe für die Nöte ihres Lebens suchten, liegt ja in der menschlichen Hilfsbedürftigkeit begründet und in dem Umstand, dass dort das Heilige in wunderbarer Weise in Erscheinung trat. 

 

An diesen Orten keimten die Flugsamen der Legenden, oder fielen die frommen Blüten in das Wildwuchsdorngestrüpp des älter dagewesenen Volksglaubens. Zu diesen Stellen ihrer Landschaft zog es die Menschen nach wie vor zu wallfahren, und die Kirche sah es als ihre selbstverständliche Erbpflicht aus vorchristlicher Zeit an, das Bedürfnis des menschlichen Seelenlebens nach Möglichkeit zu befriedigen, dabei die bodenständigen Vorstellungen und Ansprüche, welche die völkischen Massen mitbrachten und auf dem Gebiet des religiösen Lebens geltend machten, in den gebotenen Grenzen weitestgehend zu schonen. Hatte ja der Vater der missionarischen Akkomodationspraxis, der große Papst Gregor I., z.B. anlässlich der Mission unter den heidnischen Angelsachsen in seinen Briefen an den Apostel Englands, den heiligen Augustinus OSB, Weisungen in diesem Sinne gegeben und u.a. geschrieben: "In diesen Zeiten muss die heilige Kirche manches mit Milde gehen lassen, manches aus kluger Überlegung übersehen und ertragen." Noch weiter ging eine Anweisung an Abt Mellitus, wonach heidnische Tempel, zumal wenn sie dauerhaft gebaut seien, nicht zerstört sondern in Kirchen umgeweiht werden sollten, weil sich nun einmal das Volk zu diesen Gebäuden hingewöhnt habe. Auch solle man die Leute weiter "Hütten aus Zweigen baue und Gott zum Lob Schmäuse halten" lassen; nur dass diese Feste auf Märtyrer- oder Heiligentage fallen sollen. "Denn den harten Schädeln alles auf einmal zu nehmen, ist zweifellos unmöglich; und wer den Gipfel erreichen will, der muss auf Stufen und schrittweise, aber nicht in Sprüngen vorgehen." Und schließlich: "Man soll die Bräuche nicht um des Herkunftsortes, sondern den Herkunftsort um der guten Bräuche willen lieben."

 

Wallfahren von Zeit zu Zeit, alles Alltägliche hinter sich lassen, seine Wünsche und Bitten über Berge und Wälder tragen, mit Gott in der Natur alleine zu sein, ist, wie die Umzüge, ein Brauch, der fast von alleine aus dem menschlichen Gemüt herauswächst. (Wie stark das Bedürfnis zu wallfahren tatsächlich in der Menschennatur verwurzelt ist, zeigt auch der Brauch des ästhetischen Neuheidentums, nach dem die Menschen zu den Stätten großer Persönlichkeiten reisen und alle Dinge verehrungsvoll betrachten, die sie umgaben.)

 

Die Kirche führte die Menschen aus der Befangenheit ihrer heidnischen Anschauungen wechselnd mit Strenge und Vorsicht heraus. So sehen wir den jahrhundertedauernden Vorgang heute. Und ganz gewiss ist er noch nicht abgeschlossen.

 

Die ältesten Wallfahrtsstätten sind von dem Rankenwerk der Legende am dichtesten umwuchert. Deutlich auf den urtümlichen Glauben hinweist die Sage von der Gräfin Adela von Flandern, welche 1079 eine Marienkirche bauen ließ aus den versteinerten Resten der drei Jungfrauen. Zweifellos waren an jenem Ort drei Jungfrauen von den Heiden verehrt worden, fromme Einsiedler haben den Naturspuk verscheucht und eine Kirche errichtet. Außerdem ist der Legendenkeim von der bewahrten Jungfrauschaft hereingefallen. Keineswegs aber wollen wir behaupten, dass nun alle christlichen Wallfahrtsstätten auf den dinglichen oder Vorstellungs-Trümmern vorchristlicher heiliger Orte stehen. Daran vermag auch das vorgegebene Alter vieler Legenden nichts zu ändern, denn es liegt den Menschen, das Ansehen eines Verehrten durch Erhöhung seines Alters zu steigern.

 

Tatsächlich ist Maria dem deutschen Volk so eigen geworden und sind ihre gütigen, milden, herrlichen Eigenschaften, welche in den Motiven des allgemein abendländischen und christlichen Legendengutes schlummern, so verehrt und geliebt, dass aus den heiligen Orten der Landschaften die Legenden ureigenst deutsch herauswachsen. Hier stoßen wir auf ganz deutsches und zugleich ganz christliches Dichtungsgut. Es wächst seit dem 12. Jahrhundert gleichzeitig mit der Mehrung der Wallfahrtsorte, die bis ins 18. Jahrhundert hinein andauert. Wir müssen die starke Zunahme seit der Neuzeit nicht zum Geringen auch betrachten als eine gewaltige Gegenbewegung gegen jene Auffassung, welche bloß das Wort betont. Das Unsichtbare, losgelöst, befriedigt nicht.

 

Die meisten landschaftlichen Legenden ranken sich um einen Wallfahrtsort. Dabei sind die Legenden gruppenhaft verschieden nach Gestalt der Landschaft und blutlicher Eigentümlichkeit ihrer Menschen. Je nachdem auch steht die Legende der Sage, dem Märchen oder der Anekdote näher, wenngleich alle diese Dichtungsgattungen in sie verwoben sind.

 

Die Legenden sind dem Marienerlebnis des Einzelnen nur förderlich gewesen. Bestimmt aber aus einem persönlichen Marienerlebnis geworden, welches für das Heimatvolk vorbildlich wurde. Ihre Entstehung liegt unmittelbar in den Bezirken des volkstümlichen Lebensgefühls. Wir erblicken die liebevollen, anmutigen Züge, mit welchen die Einbildungskraft des Volkes die Muttergottes begabte.

 

Die Muttergottes ist seit jenen fernen ersten Wundern die volkstümlichste Gestalt vor der gläubigen Seele in Deutschland geworden. Sie steht im Menschentag und thront doch so feierlich hinter der Religiosität der Wallfahrer zu ihren Bildern und Wundern.

 

Immer aber geht das Leuchten vom Sohn aus, denn die Verehrung der Muttergottes leitet sich her alleine von der wunderbaren Unfasslichkeit ihrer Auserwählung.

 

Die uralte, immerwährend neu erblühende Poesie der Marienlegende erwacht zur Sichtbarkeit, wenn um die Marienwallfahrt zu Kevelaer die Prozession Tausender von Pilgern, Lampions und brennende Kerzen tragend, nächstens unter den Bäumen in Schlangenlinien zieht.

 

Die fromme Innigkeit der deutschen Menschen, in deren Landschaften und Herzen die Muttergottes wohnt, will mit den Legenden Unserer Lieben Frau mit hoher Anmut umkränzen.

 

 

Unserer Fraue Mitgift

 

Schon früh wurden Gegenstände, an welchen die Erinnerung an Unsere Liebe Frau haftete, gesammelt. Das liegt durchaus in der menschlichen Eigenschaft begründet. Von einer Person, die man liebte oder verehrt, wünscht man Teile des Leibes, das Haar, oder Gegenstände, mit denen sie im irdischen Leben in Berührung kam, zu besitzen, oder Plätze, an denen sie lebte, zu besuchen. Nach einer schönen Legende hatten schon zu Lebzeiten der Muttergottes alle sinnlichen Dinge, welche sie berührte, oder die nur in ihrer Nähe standen, überirdische Kräfte. So wird erzählt von einem Stein, auf dem Maria während ihrer Reise nach Bethlehem geruht hatte. Aus ihm sprang ein Quellwasser, dessen Wohlgeschmack unbeschreiblich war.

 

Die Marienbegeisterung in der ersten Hälfte des Mittelalters steigerte das Verlangen nach Reliquien von Unserer Lieben Frau ins Unerfüllbare. Da trat an Stelle der Wallfahrt ins Heilige Land die eigene Marienkirche mit dem Muttergottesbild. Und der Reliquienwunsch ging in sinnigen Dichtungen auf. Aus der Einfalt und Ehrfurcht wuchsen in den Wiesen, an den Wegen und im düsteren Geheimnis des Waldes alle begehrten Dinge und das ganze Leben der Gottesmutter: Unserer Lieben Fraue Schuh, Unserer Lieben Fraue Mantel, Muttergottes Bettstroh, Muttergottes Trinkbecher, Frauenflachs, Liebfrauenhaar, Marienträne, Marienhand.

 

Ursprünglich sind die Blumensagen poetische Naturerklärungen. Ihre Wurzel ist seit dunkler Vorzeit die liebevolle Naturbeobachtung des Volkes. Die hervorstechenden Merkmale der Pflanzen regten zum Nachsinnen an. Wie weit dem deutschen Gut weltweite Wandermotive zugrunde liegen, wie weit es unabhängig entstanden ist, lässt sich schwer sagen. Doch sind die menschlichen Anlagen und oft die Anschauungen und Bräuche derart gleich, dass aus ihnen unabhängig von einander die gleichen Sagen wachsen können. Wie leicht ist eine märchenhafte Ursache gefunden, welche dann die gestalterische Fähigkeit des Volkes reizt. Der künstlerische Aufbau der Blumensage kennt nur das eine Ziel, das Warum der Naturerscheinung zu beantworten, um religiös zu erbauen oder um zu erfreuen. Auf Schritt und Tritt begegnen wir in ihnen den Trümmern altmythischer Vorstellungen. 

 

Die Einzelmotive sind als Eigentum der Gemeinschaft anzusehen; die abgerundeten, fesselnden Gestaltungen, in denen kein Strich zu wenig, keiner zu viel, sind den begabten Erzählern zu verdanken, wie sie das Volk immer wieder hervorgebracht hat.

 

Was uns an den alten Stoffen so reizvoll erscheint, ist die Beobachtungsschärfe des Volkes, andererseits seine Herzenseinfalt. Es steckt in der naiven Naturanschauung ein wesentlicher Teil des Volksdenkens und -fühlens.

 

Bei Scheidung des nationalen vom allgemeinen Legendenschatz stellt sich heraus: Das deutsche Gut geht zurück auf die germanische Volksreligion, gewann Gestalt unter vorzüglichem Einfluss der biblischen, apokryphen und arabischen Überlieferungen. Die Hauptträgerin der Pflanzenlegende ist die Muttergottes; denn von allen biblischen Gestalten, die dem christlichen Glauben heilig sind, ist nächst dem Erlöser Maria dem Volk die vertrauteste. Wie hier ihrem Bild bisweilen die Züge von germanischen Gottheiten verliehen wurden, zeigt ihre Sage von der himmlischen Spinnerin. Nach einer morgenländischen Legende hat Maria königlichen Purpur gesponnen. Jüdische und griechische Spötter nannten sie die arme Spinnerin. In Deutschland schlug dank der angestammten Vorstellung von Freya der Spott in höchstes Ansehen um.

 

Man hört oftmals leugnen, dass die frommen Naturlegenden aus dem heimischen Volksglauben entsprangen. Freilich muss man die umbildende Tätigkeit des erzählenden Volkes einschalten. Es gibt nichts Flüchtigeres als Sagenmotive. Die Blumenlegende der Dichter ist die gegenwärtige Fortführung. Aber fließen die Nachrichten auch spärlich und steht es noch dahin, ob eine weibliche Gottheit eine annähernd marienvergleichbare allumfassende Stellung bei den Germanen überhaupt einnahm, so wissen wir doch einiges mehr und so viel, dass unsere Darstellung genügend belegt erscheint. In der fränkischen Nationalsynode im Jahr 742 stellte der heilige Bonifatius die Beobachtung heidnischer Bräuche unter Strafe. Sind auch die Stücke verloren, so haben wir doch die Überschriften, von denen die bezügliche lautet: "Vom Bettstroh, das die Bekehrten Stroh der heiligen Maria nennen". In Sachsen heißt das Labkraut Unser Frauen Bettstroh, im Erzgebirge das Johanniskraut Mariä Bettstroh und in Schlesien, in der Mark, in Mecklenburg, Holstein und Tirol heißt der Feldthymian oder Karwendel Marienbettstroh. Der Volksglaube verlieh diesen Kräutern übernatürliche Kräfte.

 

Der heilige Bonifatius gestattete, die Pflanzen unter dem neuen Namen, aber ohne den hergebrachten Zauber zur Gesundheit des Leibes zu gebrauchen, besonders am Tag vor Mariä Himmelfahrt zu suchen. Die Beziehungen zur Kräuterweihe, deren Sträuße je nach der Gegend aus verschiedenen Pflanzen zusammengelesen werden, sind unverkennbar. Wir sehen den Vorgang der Verdrängung heidnischer Gebräuche offenliegen. Alle die gemütvollen Beziehungen des Volkes zur Pflanze münden in die christliche Legende ein.

 

Wir haben in den Pflanzenlegenden wirkliches blutliches Leben des Volkstums vor uns. Bis ins 14. Jahrhundert hinein sind uns heidnische Heilighaltungen von Pflanzen in deutschen Landschaften, darunter sogar das Elsass, urkundlich überliefert. Ja wir finden, dass gerade jene Legenden die poesievollsten sind, von deren Pflanzen noch heute feststellbar ist, welchem Gott sie früher geweiht waren, und die bis in die Gegenwart landschaftsweise, freilich unter christlichem Namen, gebraucht werden. Es sind gewiss keine leeren, etwa des germanischen Altertums überfreudige Behauptungen, dass die zarten Pflanzenlegenden der Muttergottes heidnische Elemente in sich aufgenommen haben: In der Breslauer kirchlichen Handschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts findet sich eine Stelle von Maria, "der Königin des Himmels, welche das Volk Frau Holda nennt". (Vielleicht stammte der Schreiber aus Hessen, dem Kernland der Freya-Hollensage.)

 

Jakob Grimm verglich das Heidentum mit einer seltsamen Pflanze, deren farbige, duftende Blüten wir mit Verwunderung betrachten, das Christentum die weite Stecken einnehmende Aussaat des nährenden Getreides. Den christlichen Glauben haben die Legenden von den Marienblumen, jene unschuldigen Kinder des Volksgemüts, nicht zu verdunkeln vermocht. Sie sind ein bunt leuchtender Feldstrauß. Sie sind nicht abgöttisch, sondern quellen aus einer rein menschlichen, zumal eigentümlich deutschen Seelenhaltung. Wie ganz anders entsprechen diese zarten Blüten einer naiven Poesie dem deutschen Empfinden, als die Mirakel des Morgenlands. Bis in die Gegenwart blühen sie, die zartesten Gebilde in der Legendenwiese. Legenden in einem einzigen Wort: Marienglocke, Mariengras, Liebfrauenblatt. Es ist kein Zweifel, dass die innige Liebe zur Güte, Schönheit und  Macht der himmlischen Fraue, welche das deutsche Volk hervorgebracht hat, aus der Tiefe seines angestammten Gemütes sprosste.

 

Vier Tatsachen aus dem Leben Mariens sind die Mittelpunkte der größeren Legendenkreise geworden: Der Gang übers Gebirge zur Heimsuchung, Christi Geburt, die Flucht nach Ägypten, die Kindheit Jesu. Davor liegt ein kleinerer Kreis: Mariens Geburt, Jugend und Brautschaft. Dahinter kommen zwei kleinere Kreise: Jesu Erlösertod und Mariens Tod.

 

Die Muttergottes ist in der biblischen Überlieferung viel größer, als dass ihr Bild der Ausschmückung bedürfte. Die Sage aber will an Handlungen anknüpfen, die sie bereichern, weiterbilden und schließlich auch durch neuen Inhalt ersetzen kann. Das Volk liebt die kleinen Einzelzüge, es will die verehrte, über alles irdische Maß emporgehobene Heilige sinnhaft nahe bei sich in der angestammten Landschaft haben.

 

Es gibt Menschen, die wollen die Muttergottes nun gleichsetzen mit dieser oder jener Frauengestalt aus der heidnischen Einbildungskraft. Schaut der urtümliche Volksglaube auch durch die christliche Pflanzenlegende, so vergessen jene doch, dass alle die heidengöttlichen Wanderer nur ihre schönsten Züge haben leihen müssen zur wunderbaren Ausmalung des Muttergottesbildes.

 

Solche Menschen sehen Maria nicht mehr.

 

Denn die Legenden, die das Volk aus den alten Märlein schuf, sind schließlich nichts anderes als bloß ein duftiger Strauß, den es der hehren himmlischen Fraue zu Füßen legt.