Marienlegenden deutscher Landschaften Teil 1

 

Die Mariengestalt in der Dichtung

 

Es liegt im Bedürfnis des Menschen und ist sein natürliches Vermögen, allem Sichtbaren eine übersinnliche Deutung zu geben und das Übersinnliche in sichtbare Bilder umzuschaffen. Beide, Verlangen und Kraft, haben besonders auch die Mariengestalt ergriffen und ihrem Bild schon früh viel wunderbare Züge zugefügt.

 

Es stehen am Anfang der christlichen Dichtung die apokryphen Kindheits-Jesu- und Marien-Evangelien. Sie sind in der Sonne Kleinasiens dem wundersüchtigen Sinn entsprossen. Die abendländische Kirche bewahrte ihren Glaubensbestand gegen das Eindringen solcher "Wunder" und erkannte sie auch später nur als Dichtung an.

 

Die Marienverehrung war im Osten aufgegangen. 

 

Freilich besaß  die Stadt Mainz neben dem Mariendom ein Marienkloster für Nonnen innerhalb und eine Marienkapelle außerhalb der Stadt schon um das Jahr 800. Das Kloster Lorsch hatte innerhalb von hundert Jahren acht Marienkirchen mit Grundbesitz in den verschiedensten deutschen Gegenden vermacht bekommen. Und die Schüler des heiligen Bonifatius weihten Altomünster und Benediktbeuern in Oberdeutschland bereits der Gottesmutter. Aber Maria war in Deutschland damals nur eine Heilige in der Schar. An der Tatsache ändern weder die Verse etwas, die man ihr in Marmortafeln widmete und in die Wände der Altäre einmauerte, noch die herrlichen Worte, die Rabanus Maurus für die Marienkirche zu Fulda fand. Immerhin scheint das Marienbild zur Ausstattung der Mönchszelle schon in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gehört zu haben. Vor ihm zündete der Einsiedler Lichter an. Musste er die Zelle auf eine Zeit verlassen, so trug er Sorge, dass das Licht während seiner Abwesenheit solange wie möglich weiterbrannte. Es sind Legenden auf uns gekommen, nach denen das Licht, das der Heilige vor seiner Abreise angesteckt hatte, auf wunderbare Weise lange Monde weiterbrannte. Maria hatte es selbst versorgt.

 

Im Abendland wuchs die allgemeine bevorzugte Verehrung der Gottesmutter aus der volkstümlichen Glaubensübung heraus. Mit ihr waren die Marienwunder von Osten her eingezogen.

 

Es ist die Eigenart dieses Gewordenseins durchaus kein Nachteil. Vielmehr spricht sie für die überlegende Gründlichkeit, mit der die abendländische Kirche entgegen den rasch zugreifenden Menschen des Ostens prüfte und ans Werk ging. Die im 16. Jahrhundert erhobenen Bedenken sind in der Tat von den gelehrten Köpfen des 8. und 9. Jahrhunderts bereits mit Leidenschaft erörtert worden. Aber der Streit um die Bilderverehrung, der ja den ganzen Fragenkreis Maria und die Kunst umfasst, wurde auf dem zweiten Konzil zu Nizäa damals zu ihren Gunsten entschieden.

 

Ernst und kindlich zugleich war die Zeit. Vernunft und Gemüt hielten sich die Waage. Was für die Welt die Poesie, ist für das Christentum die Marienverehrung. Sie gibt ihm zu seiner Strenge das Anmutige. Sie ist das Blumenbeet im Krautgarten. Freundlich und lieblich umranken die Wildrosen der Mariendichtung den Gottesdienst, das Menschenleben.

 

Die Tatsachen des Marienlebens sind unabänderlich festgelegt in den Evangelien und der Überlieferung. Aber die innigen Züge bekommt das Muttergottesbild in den Liedern und den Legenden des Volkes, in der Kunst. Es umhegte die Kirche dann den Wildwuchsgarten des dichtenden Volksgemüts und war ein Naturschutz des dem Heimatboden entsprossenen Glaubens. 

 

Alle Mariendichtung kreist zwischen zwei Polen. Der eine ist die geschichtliche Überlieferung, der andere das persönliche Marienerlebnis des Dichters. Es konnte unmittelbar nach der Überwindung des germanischen Volkstums in Deutschland eine eigene religiöse Dichtung natürlich nicht aufkommen. Dafür stand damals das Christentum zu fremd im Land. So ist alle deutsche Dichtung jener Jahrhunderte in lateinischer Sprache abgefasst. Unpersönlich ist die "Geschichte der Geburt und des lobwürdigen Lebens der unbefleckten Gottesgebärerin" der Nonne Roswith von Gandersheim, wenngleich ihr Werk den Inhalt der Marienevangelien in Deutschland erst eigentlich bekannt machte. 

 

Die einzige Arbeit dieser Art, die aber ein wirkliches Kunstwerk wurde, selbstständiges Geschöpf einer ganzen Dichterpersönlichkeit, ist das zu den ganz großen Dichtungen des Abendlandes gehörende, über die Jahrhunderte lebendig gebliebene und auf uns gekommene "Marienleben" Philipps des Kartäusermönchs aus Kloster Seitz in Steiermark. Es ist um 1260 anzusetzen. Seine Sprache ist mittelfränkisch. Da hinein ist der ganze Stoff der alten Marienleben eingegangen. Für die bereits wieder herangewachsene und zugleich veredelte Kraft der Deutschen aber zeuge die Wucht des starken Durchlebens der alten Stoffe und die zeitlos künstlerische Gestaltung der impressionistisch hingeworfenen atemlosen, aufgehetzten Szenen, in denen die umworbene jugendliche Maria alle ihre Hoffnungen auf Gott setzt, als ihr Josef als Gatte verkündet wird, und als sie irrend den Sohn sucht, während er zum Leiden geführt wird. Der Eigenwert des Stoffes steht dem Dichter freilich unerschütterlich gegenüber. Aber er wird ihm zum Marienerlebnis, als Maria betet und er mit ihr. Es ist eine der dankbarsten Aufgaben, die Wandlung von der Übernahme fremder Motive zur Gestaltung des eigenen deutschen Marienerlebnisses zu verfolgen. 

 

Gleichlaufend wurde die Marienlyrik. Die Gestalt der jungfräulichen Mutter hatte sich aus der Darstellung innerhalb der Jugendgeschichte gelöst. Der weltliche Minnedienst gibt der Marienminne die Glut, die eigentliche Wurzel der Frauenminne ist andererseits die Marienverehrung. Es blühen die herrlichen deutenden Beiworte und Sprachbilder. Die Himmelskönigin, das Idealbild jungfräulicher Anmut und lilienreiner Holdseligkeit, wird gepriesen als der versiegelte Brunnen, die Rose ohne Dorne, der geschlossene Garten, die Pforte zum Paradies. Die Kreuzzüge der Muttergottes zu Ehren, feuern an. Immerhin wäre es unrichtig, die Mariengestalt der Poesie als einfache Steigerung der in der ritterlichen Minne verehrten Frau anzunehmen, wenngleich von hier die lieblichen Züge stammen. Die Gegensätze Sinnlichkeit und Frömmigkeit scheinen ausgeglichen. Mariens Leib ist das Sinnbild des ewigen Blühens. 

 

Die Minnekultur, nur die Blüte der rein ästhetischen Weltanschauung des durch Vorrecht und wirtschaftliche Sorgenlosigkeit herausgehobenen Ritterstandes, zerfällt schnell. Auf religiösem Gebiet ist die Mystik der verzweifelte Versuch, sie für den einzelnen Beschaulichen zu retten.

 

Da ertönt zu uns herüber der herrliche lobpreisende "Arnsteiner Marienleich", in dem Maria mit dem Glase verglichen wird, "durch das wohl das Sonnenlicht dringt und das doch lauter bleibt wie zuvor".

 

Auf der einen Seite Wohlleben, Kaiserherrlichkeit, Kirchenpracht. Im Volk Ringen nach einer persönlichen Frömmigkeit. Die Bettelorden kommen, Wanderprediger, und bringen Maria dem breiten Volk.

 

Die Gottesmutter wächst hinein in den Alltag des Volkes.

 

Die Zartheit des ausschließlich Schönen ist freilich zerrissen.

 

Vor der Muttergottes steht die Kleinheit des Menschen, die Angst vor dem Richter. Maria wird die gütige Helferin. Das Erdenwirken der Gottesmutter beginnt. Es hebt in Deutschland die Zeit der Legende an, sie wuchert aus der Breite der Volksseele. Was man sich im Volk von Maria erzählt, ist oft kunstlos. Aber es ist doch viel Poetisches darunter. Die feine Kultur des Rittertums ist ein Element in dem gesteigerten Lebensgefühls des 13. Jahrhunderts und schöngestaltend wirksam. Die frommen Geschichten sind Berichte über wunderbare Wirkungen, die das Vertrauen auf die Gottesmutter hervorbrachte und ihre Fürbitte, zum Beweis der Macht und Güte Mariens erfunden.

 

Es entstehen die großen Passionale, Sammlungen von Legenden der Heiligen und Mariä. Bekannt in allen Ländern, neugestaltet in allen Heimatsprachen.

 

Landschafts- und Volkstumseigenes wächst hinzu, besonders das Gerank um Wallfahrtsstätten und Marienbilder. Urtümlich deutsches Volksgut wuchert hinein. Das germanische Volkstum hatte unter der christlichen Schicht weitergelebt.

 

Das Marienlied war Volkslied geworden. Die Reste der Liebfrauenminne, ihr ewiges Gut, fallen wie goldene Strahlen hinein. Die Empfindung des Blühens und der Fülle ist dem Kenner der irdischen Liebe auch der himmlischen Frau gegenüber nicht fremd. Viele Szenen sind empfunden in einer heimlichen Trautheit, und die deutsche Heimat leuchtet auf in überraschenden kleinen Zwischenbildern. Daher sind die Lieder so warm, weil sie ein ursprüngliches Erlebnis festhalten, ohne Erklärung, ohne Verdeutlichung. Die ganze Stimmung des Volksliedes legt sich über die landschaftlichen Legenden. Es bilden sich die anschaulichen, lebendigen, glückhaften Züge der ewigen deutschen Muttergottes. Die Madonna im Feierkleid über dem Alltag und den Sorgen der deutschen Menschen.

 

Wir sind bereits lange über das Mittelalter hinaus.

 

Die Muttergottesgestalt, wie sie auch die heutigen Dichter sehen, ist die so gewordene Maria, die Madonna auch der Romantik, besonders Eichendorffs:

 

Im Brautkleid von Himmelsschein

Und goldene Sterne gewoben drein.