Heilig Kreuz, o selig Zeichen!

Wohl ihm, der da kann erreichen

Deine hochgelobte Frucht,

Die du trugst in seliger Zucht!

Wie tief, wie hoch, wie lang, wie breit

Ist deine Macht und Herrlichkeit!

In dir ist alles beschlossen,

Was gutes vom Himmel geflossen.

Du bist die Leiter, auf der man eben

Aufsteigt zum ewigen Leben.

Du bist die Brücke, drauf alle Frommen

Von dieser Welt zum Himmel kommen.

Der Schlüssel des Lebens bist du,

Des Todes Riegel dazu.

Du bist der Pilgerstab für alle,

Sich zu bewahren vor ewigem Falle.

Du bist das Zeichen, davor erschrickt

Der Feind, wenn er dich nur erblickt.

Du sollst allein das Ehrfähnlein

Eines christlichen Ritters sein.

 

Woher dein edler Stamm gekommen,

Das künd` ich nun, wie ich vernommen.

 

AlsAdam vor dem Tode lag

Und seines großen Siechtums pflag,

Da ging auf seine Bitten

Seth, sein Sohn, mit treuen Sitten

Bis vor des Paradieses Tor.

Den Engel, der noch stand davor,

Schrie er mit klagenden Worten an

Um jenes Oel, das da rann

Vom Baum, genannt "Barmherzigkeit".

Michael aber sprach: "Zur Zeit

Mag dieses Oel dir noch nicht werden.

Es kommt erst nieder zur Erden

Über fünftausend Jahr oder mehr.

Doch geb` ich dir gerne her

Vom selben Baum ein Reislein zart,

Davon Adam so unweiser Art

Mit Eva den Apfel aß.

Geh dann damit fürbaß

Und pflanze es in die Erde,

Dass es ein Baum werde,

Von dessen Frucht einst soll genesen

Dein Vater und alles menschliche Wesen!"

 

Seth kam zurück. Zu seiner Not

Fand er den lieben Vater tot.

Das Reis pflanzte der treue Sohn

Auf dem Gebirge Libanon.

Dort wuchs es auf und ward

Ein großer Baum von schöner Art;

Auch in der tobenden Sündflut

Blieb er vor Schaden wohl in Hut.

 

Als König Salomon, wie er sollte,

Gottes Tempel bauen wollte,

Da ward auch jener Baum geschlagen

Und zum Baue hergetragen.

Doch passte er an keinem Ort.

Zu kurz, zu lang schien immerfort

Der Balken; darum warf man ihn

In eine nahe Pfütze hin,

Dass er dort über den bösen weg

Sollte dienen als starker Steg.

 

Nun kam die Königin allda

Aus dem Lande Saba,

Die weiseste aller Frauen,

Salomons Pracht zu schauen.

Da geriet sie auf dem Weg

Auch an den Baum, den man zum Steg

Verworfen hatte. Sie erschrak,

Als sie sah, wie er da lag,

Da sich ihrem Geiste

Seine Zukunft weiste,

Dass von ihm kommen müsse

Das Heil der Welt, das süße. 

 

Sie kniete nieder, um zu beten,

Und wagte nicht, ihn zu betreten.

Dem König sagte sie die Märe;

Der gab dem Stamme alle Ehre.

 

Doch als Jerusalem ward zerstört,

Hat man den Stamm, wie wir gehört,

In einen tiefen Teich versenkt.

Das ist der Teich, dess auch gedenkt

Die heilige Schrift; denn Heilkraft hatte

Das Wasser. Mancher Leidensmatte

Kam dahin, um darin zu baden

Und vorzufühlen des Kreuzes Gnaden.

 

Dies währte bis auf jenen Tag,

Da Pilatus des Urteils Pflag

Über Gottes Sohn. Da kam

Das liebe Holz empor und schwamm

Auf jenem Wasser. Die Juden kamen

Eben dazu, die harten, und nahmen

Es heraus. Da ward die edle Last

Geladen auf den göttlichen Gast.

Da ward der Stamm, von Blut benetzt,

Auf Golgatha wieder eingesetzt.

Da trug er höchsten Heiles Frucht

Von paradiesischer Zucht.

 

Als Jesus Christ begraben ward,

Kam auch der Stamm von edler Art

In Vergessenheit fürwahr

Völlig über zweihundert Jahr;

Unter Schutt war er verborgen.

Dann hatte auch in großen Sorgen

Um der Götter alte Macht

Der Kaiser Hadrian wohlbedacht

Über Golgatha der Frauen

Venus lassen den Tempel bauen,

Dass man vergäße den Gottessohn,

Der alle Götter stürze vom Thron.

 

Wie man das Kreuz doch wieder gefunden,

Das sollt ihr hören in späteren Stunden.

 

(Aus: "Goldene Legende der Heiligen"

von Joachim und Anna bis auf Constantin den Großen

neu erzählt, geordnet und gedichtet von

Richard von Kralik, 1902)