Der Büßer von Kaysersberg
von Reinhold Schneider
Etwa im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erschien in der alten Stadt Kaysersberg im Elsaß ein Fremdling, mit dessen seltsamem Wesen sich die Bewohner niemals ganz abfinden konnten. Im November, wenn die spärliche Helle des Tages früher wieder erlosch, schleppte sich ein Schleifen und Klirren die gewundene Straße von der Kirche zur Brücke hinauf, als werde auf einem schlechten, rumpelnden, stampfenden Karren eine widerwillige Last fortgeschoben; langsam erschien in den Erkerfenstern der behäbigen Stuben ein ungeheures Kreuz - oft zum Unwillen derer, die um diese Stunde sich mit einem Glase Wein und einem kräftigen Bissen entweder für ihre Arbeit belohnen oder sich den Tag etwas aufhellen wollten. Ja es kam zu heftigen Äußerungen des Unwillens und Verwünschungen, wenn etwa eines Abends beim Tanze die schweren Balken in die Lichtbahn rückten, die aus dem hell erleuchteten, reich getäfelten Saal eines Gasthauses fiel, und in Musik und Gesang das Schleifen und Schleppen knirschte. Dann erscholl auch die Stimme des Büßers; er sang eine fast wehmütige, vorwurfslose Klage, aber sein Haupt war kaum zu sehen, so tief beugte er sich unter der beinahe auf dem Nacken liegenden Kreuzeslast, nur der Bart schimmerte über die grobe, sackleinene Kutte; mit unsäglicher Mühe, aber bewundernswerter beharrlicher Kraft bewegten sich die Füße, die in ungeheuren eisenbeschlagenen und aneinandergeketteten hölzernen Schuhen steckten.
So tauchte die unheimliche Gestalt in dem mit einem zierlich überdeckten Brunnen geschmückten Hof eines ritterlichen Hauses auf, als dort eben eine Hochzeit gefeiert wurde, und viele sahen darin eine schlechte Vorbedeutung und sollten sich auch später darauf berufen; er quälte sich auf den holprigen Steinen der Armengasse, die zwischen Berg und Stadtmauer hinzog, hinter dem Sarge einer Witwe her, außer ihren Nachbarinnen der einzige Geleiter; das riesige Kreuz schwankte durch das Maskentreiben, das nur scheu oder unwillig Platz machte, und niemand wagte, an ihn zu rühren, obwohl die Wucht, mit der der Kreuzträger die Gewichte an seinen Füßen weiterstieß, etwas Mahnendes oder Drohendes zu haben schien. Sein Gesang scholl in die aus dem offenen Fenster des Schulzimmers tönenden frischen Stimmen der Kinder; selbst nachts war dann und wann das Knirschen und Klirren vernehmlich: Dann konnte es geschehen, dass der Büßer einmal innehielt auf der gewölbten Brücke und die Last sachte aufstellte; das Mondlicht fiel auf das bärtige, verwitterte Gesicht, und wer gerade aus dem Fenster sah, musste sich eingestehen, dass dieses nichts Schreckliches hatte; unerbittliche, geduldig getragene Leiden hatten es geprägt. Niemals betrat er das ehrwürdige Münster, sei es, dass er den Geistlichen fürchtete oder sich von seiner Last nicht trennen wollte, mit ihr aber nicht einzutreten wagte. Dann und wann beugte er sich einmal über den Brunnenstrahl, um zu trinken oder sich die Stirne zu kühlen. Wenn er rastete, so am liebsten angesichts des Beinhauses hinter dem Gotteshause; dort führte eine Treppe in das Gruftgewölbe, wo die ausgebleichten Schädel und Gebeine der von der Pest Dahingerafften unter dem Kreuze aufgeschichtet waren - die Knechte beim Meister, wie die herbe Inschrift sagte -, und der Büßer setzte sich auf die oberste Stufe, das Kreuz über seine Knie legend. Er betete lange, unbekümmert um das Spiel, den Spott oder die tückischen Steinwürfe der Kinder, die diesen Ort zugleich fürchteten und liebten, dann machte er sich wieder auf, als dürfe er keine Gasse vergessen; ja es kam vor, dass er am Ausgang der Stadt noch einmal umkehrte und sich nach einer Stelle schleppte, wo er längere Zeit nicht vorübergekommen war. Auch nahm er es geduldig hin, dass der Schnee sich auf die ungefügten Balken legte und vor seinen Schuhen ballte, während die Menschen staunend oder schaudernd durch die gefrorenen Scheiben sahen.
Niemand wusste, wer er war. Im Walde, angesichts der klotzigen, zertrümmerten Burg, die von ferner Höhe her das Städtlein beherrschte als des Kaisers Berg, hatte er sich aus Steinen und Baumstämmen ohne Sorgfalt und Geschick eine Einsiedelei gebaut; der Weg dahin war in der Mühe der Jahre von den Schuhen festgestampft, den Ketten gescheuert, so dass er einer ordentlichen Straße glich. Aber niemand suchte ihn auf; alle fürchteten ihn. Der Bann des Unglücks, der Untat schien von ihm auszugehen; darum wagte man auch nicht, ihn zu vertreiben, so lästig er auch oft war. Dem und jenem mochte es auch eine Genugtuung sein, dass inmitten der lebensfrohen Stadt eine so eindringliche Buße geleistet wurde. Er hat seinen Bruder erschlagen, sagten die einen; andere wussten von einem Gottesraub, wieder andere von unaussprechlichen Verbrechen. Alle waren sich darin einig, dass eine Gewissenslast den Büßer beugte, deren schwaches Abbild nur die äußeren Lasten waren; anfängliche Versuche, ihn zu fragen, hatte er nur mit Aufstöhnen oder Seufzen beantwortet oder mit einem Schütteln des verwilderten Hauptes, das im Grunde nur den Anschein des Schrecklichen hatte. Selten verging ein Tag, da er die Gemeinschaft der Menschen nicht suchte, von denen er doch durch den ihm anhängenden Ruf getrennt war.
Zu gewissen Zeiten stieg er von der Einsiedelei zu einem armen Gebirgsdorf empor, das ein einst viel verehrtes, nun aber vernachlässigtes Gnadenbild barg; vor der baufälligen Kirche bettete er mit großer Sorgfalt das Kreuz in das Gras, auch der Schuhe entledigte er sich; tief gebeugt, oft unter heftigem Weinen, trat er an den Beichtstuhl und dann an den Altar. Das Gehen ohne die Last schien ihm noch schmerzhafter und beschwerlicher zu sein als das Schleppen der Gewichte. Nun zeigte es sich, dass seine Füße unter der Qual ihrer Ruhelosigkeit völlig verunstaltet worden waren. Der Pfarrer des Dorfes sah den Gast offenbar nicht ungern und wies einen jeden Vorwurf ab, den man ihm seinetwegen machte. Denn manche nahmen Anstoß, dass ein im Rufe furchtbarer Verbrechen Stehender zu den Sakramenten zugelassen wurde. Aber der Geistliche, ein in sich gekehrter, leicht verletzender Mann, dessen Urteil gefürchtet war, rechtfertigte sich niemals; er selber schien bitter darunter zu leiden, dass die einst viel geübte Wallfahrt in Vergessenheit geraten war in der erkaltenden Zeit. Ein einziges Mal nur sagte er, bald werde es soweit sein, dass der Büßer von Kaysersberg der letzte Wallfahrer sei, der das Gnadenbild ehrte. Es war kein Geheimnis, dass der Priester ganze Nächte beim Schein ersparter Kerzen vor dem altersdunklen Heiligtum verbrachte, als wolle er allein an Gebeten aufbringen, was die Welt nicht mehr darbieten wollte, hatten doch früher, wie die Votivtafeln meldeten, selbst die reichen Städte der beiden Rheinufer Pilgerzüge in das Gebirgsdorf gesandt. Dem Priester ist auch das einzige Wort zu verdanken, das ein schwaches Licht auf das Geheimnis des Büßers warf. Es fiel lange, nachdem man an einem milden Abend vor Allerheiligen, da die Amseln noch einmal zu rufen versuchten, den Greis, die gewaltigen Schuhe an den Füßen, das Kreuz über der Brust, friedseligen Ausdrucks unter der Wettertanne neben der Einsiedelei tot aufgefunden hatte. Die Zeit war ihren Weg gegangen, nicht den von den Menschen erwarteten, vorausgesehenen, sondern einen furchtbaren Weg, vom Aufruhr zum Kriege, vom Kriege zu Gräueln, von der Vernachlässigung zur Verfolgung des Kreuzes; konnten doch durch Tag und Jahr die Priester nur in verborgenen Kammern oder in Kellern und bei Gefahr des Lebens vor wenigen Getreuen den heiligen Kelch erheben. Über die einst froh bewegte Stadt zwischen den sonnenglühenden Weinbergen fiel der Schatten der Armut und Verödung; Tanz und Musik verstummten, wie sie wohl verstummt waren vor dem Klirren und Schleifen der büßenden Füße, vor den Schatten des Kreuzes, aber sie setzten nicht wieder ein wie damals, sobald die störende Erscheinung vorüber war. Nun dachte man an den Büßer, ja sie glaubten, plötzlich den gebeugten Schatten im Fenster vorüberziehen zu sehen oder in der Mittagsstille ausgestorbener, grasüberwachsener Gassen die stampfenden Tritte zu hören; man hatte seine Schuhe und das Kreuz auf das Rathaus getragen und hier verwahrt als arme Merkwürdigkeiten, die man Fremden zeigen konnte. Doch kamen kaum mehr Fremde nach Kaysersberg, wo sich Reisende und Wanderer früher gerne an die reichgedeckten, mit bunten heimischen Tellern und Schüsseln ausgestatteten Tische gesetzt hatten.
Wenige Tage vor seinem Tode predigte der Pfarrer des Wallfahrtsdorfes vor den halbleeren Bänken vom Geheimnis des Kreuzes. Es habe einen Mann gegeben, der einfältigen Gemütes das Kreuz noch erhoben und es den Dingen entgegengetragen habe, die da kommen sollten. Auch habe er, nach der Meinung des Apostels, wenn auch auf eine furchtbare Weise, seine Füße beschuht für das Evangelium des Friedens. Er habe sich, so gut er es gekonnt, zum Bild der Wahrheit gemacht für seine Zeit, aber die Zeit habe ihn nicht verstanden, weil sie es nicht wollte. Einige würden sich vielleicht seiner noch erinnern. Man habe ihn für einen Übeltäter gehalten, und nie habe er dem widersprochen. Aber das Geheimnis des Kreuzes, ursprünglich wie jetzt, sei, dass es von denen getragen würde, die nicht ihre Schuld trügen, sondern die Schuld der Welt. - Und vielleicht erschien den letzten, die den Büßer noch unten in der Stadt oder hier oben im Dorf seine Last hatten tragen sehen, sein durchfurchtes, stilles Gesicht in diesem Augenblick im Lichte der Wahrheit.