Auf der Wallfahrt zu Ehren Marias
Jeder Mensch empfindet ein natürliches Interesse, Stätten zu besuchen und zu besichtigen, an denen irgend etwas Wichtiges, z.B. eine berühmte Schlacht stattgefunden oder wo ein großer Mensch gelebt und gewirkt hat. Aus dieser Empfindung heraus haben schon in den ältesten Zeiten, besonders aber seit Kaiser Konstantin die Christen mit großer Vorliebe jene Stätten im Heiligen Land aufgesucht, die Jesus Christus durch seine leibliche Gegenwart heiligte und wo sich die grundlegenden Tatsachen der Erlösung vollzogen haben. Durch die Macht der sinnlichen Anschauung werden an solchen Orten die religiösen Erinnerungen und Vorstellungen und die Gefühle der Dankbarkeit zu höchster Lebhaftigkeit gesteigert und die Herzen zur Andacht und Liebe und zum Vertrauen entflammt.
In ähnlicher Weise führte die Verehrung für die großen Heiligen die Gläubigen bald auch zu den Stätten ihrer Wirksamkeit, zu ihren Gräbern, zu den Orten, wo ihre Überreste aufbewahrt wurden, und angefangen von den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus bis zu denen der zahllosen lokalen Heiligen sind auf diese Weise in der ganzen Welt unzählige größere und kleinere Wallfahrtsorte entstanden.
Und noch ein dritter Grund für ihre Entstehung wäre anzuführen. Schon unsere heidnischen Vorfahren bevorzugten für ihre Opferstätten einsame Bergeshöhen, stimmungsvolle Waldgegenden und erquickende Quellen, denn ein tiefes und gemütvolles Naturgefühl, das auch im einfachen Volk lebendig ist und auch in der Urzeit schon vorhanden war, erfüllt auf einsamen Bergeshöhen und im geheimnisvollen Rauschen schattendunkler Wälder unser Herz mit einer eigentümlichen Weihestimmung, zieht es vom gewöhnlichen Alltag ab, macht es für ernste, für Ewigkeitsgedanken empfänglicher und bringt uns Gott, dem gemeinsamen Urquell alles Seins, in dem wir auch mit der Natur eng verbunden sind, näher als sonst. Dieser allgemeine Zug des Menschenherzens hat sich auch im Christentum nicht geändert und es zeugt nur von der Weisheit und vom weitherzigen Verständnis der Kirche, dass sie diesem tief eingewurzelten Bedürfnis Rechnung trug und neben der offiziellen und feierlichen Liturgie in den Dom-, Pfarr- und Klosterkirchen auch diese mehr private Frömmigkeit an den Wallfahrtsorten gewähren ließ. Mit besonderer Vorliebe verknüpfte das Volk solche ansprechenden Andachtsworte mit der ihm besonders naheliegenden Marienverehrung, und wir brauchen nur die Namen unserer beliebtesten Marienwallfahrten zu nennen: Maria Tax, Maria Larch und Maria Waldrast, Heiligwasser und Kaltenbrunn, Maria Brettfall, Locherboden, Weißenstein, Altötting - um zu erkennen, dass die Vorliebe unserer Ahnen für Wälder, Quellen und Bergeshöhen auch hier überall noch nachwirkt und durchschimmert.
Es ist begreiflich, dass die Rationalisten aller Zeiten die Wallfahrten leidenschaftlich bekämpft haben. Wer aber nicht vergisst, dass wir Menschen aus Leib und Seele bestehen und dass deswegen auch die sinnlichen Eindrücke für unser inneres, auch für unser religiöses Leben eine große Rolle spielen, wer weiterhin Sinn und Interesse für merkwürdige Volksbräuche, für poesievolle Legenden, für Bodenständigkeit, Duft und Farbe auch im religiösen Leben besitzt, der wird auch den Wert des Wallfahrens gebührend zu würdigen wissen.
Es ist viel wert, dass der Mensch als Wallfahrer einmal aus dem staubigen, ewig gleichförmigen Alltag herausgerissen wird. Sein Herz ist auf diese Weise freier, angeregter, aufnahmebereiter, und außerdem wirkt der weite und oft beschwerliche Weg, das Gefühl, ein Opfer auf sich genommen, etwas Schweres überwunden zu haben, dann die eindrucksvolle Lage des Wallfahrtsortes, die friedliche Stille der Kirche, das Bewusstsein, dass auch schon so viele andere ihre Sorgen hierher getragen und hier Trost gefunden haben - das alles wirkt zusammen, um unsere Andacht und unser Vertrauen mächtig zu beleben. Und je vertrauensvoller und inniger wir beten, desto leichter werden wir eben Erhörung finden. Das aber ist der eigentlichste und letzte Grund dafür, warum so viele Menschen von einer Wallfahrt erleichtert, getröstet und erhoben heimkehren.
Inhalt:
1. Ein Brief über das Wallfahrten
2. Drei Pilgerinnen zur heiligen Maria von den Engeln
3. Ein Wallfahrtstag in Marienthal
4. Das Gelöbnis einer Wallfahrt
5. Maria auf dem Berg von La Salette
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1. Ein Brief über das Wallfahrten
(Aus: Erinnerungen aus einer Reise durch einige Abteien in Österreich von J. B. Zarbl, 1836)
Lieber Freund! Das Wallfahrten an und für sich ist unserer hellsehenden Zeit ein Stein des Anstoßes und der Ärgernis. Es gibt ganze Scharen von Kreuzzüglern, die, gleich dem berühmten Ritter von Mancha, wohlbewaffnet gegen diese uralte, kirchliche und einflussreiche Sitte zu Felde ziehen. "Die Leute", dies ist ihr Feldgeschrei, "versäumen ihre häuslichen Arbeiten, verschleudern ihre sauer erworbenen Kreuzer, und lernen den Müßiggang! Überhaupt wallfahrten sie nur, um etwas Neues zu hören und zu sehen, werden dabei noch im Wahn der Werkheiligkeit bestärkt, und vernachlässigen ihre heimatlichen Seelsorger! Das Wallfahrten ist zudem der Gesundheit höchst nachteilig, wie die Weihnachtsmette um Mitternacht, und gibt, wie sie, zu Unsittlichkeiten und Ausschweifungen jeder Art hundertfältige Veranlassung! Letztlich tragen sie auch noch das Geld über die Grenze, wodurch sie dem Staat unberechenbaren Schaden zufügen!" Und dies ist noch gräulicher als Aberglaube, und Sünde und Laster!
Ich überlasse es Dir, diesen Knäuel von Vorurteilen und leidenschaftlichem Unsinn zu entwirren. Wir haben indessen in St. Wolfgang eine Schar Pilger gesehen, und der Anblick ihres frommen Zuges hat in meiner Seele all die rührenden Bilder wieder aufgefrischt, unter welchen mir diese Wallfahrten so oft und jedesmal erschienen sind. Mag die Welt davon sagen, was sie will, sie sind besser als sie von ihnen denkt! Auch ist das Wallfahrten so alt als unsere Kirche, und noch älter. Wir finden es allenthalben unter den religiösen Gewohnheiten, und jedes christliche Reich, ja fast jede Landschaft oder Gegend besitzt irgendeinen angesehenen Wallfahrtsort. Alles dieses, und dazu noch der Umstand, dass diese fromme Gewohnheit gerade in dem Maße abzunehmen scheint, in welchem sich überhaupt der Ernst, die Frische und Kraft des Glaubens verflüchtigen, und das religiöse Leben in jene tödliche Erschlaffung herabsinkt, scheinen mir für eine tiefere Wirksamkeit dieser heiligen Pilgerfahrten, sei es nun zur Mutter des Herrn, oder eines anderen Heiligen, zu zeugen.
Wie es in irdischer Beziehung unzählige Dinge gibt, die, ohne wesentlich in den großen Gliederbau des Lebens zu gehören, gleichwohl unermesslich vieles beitragen, das Leben in rechten, vollen Gang zu setzen, es zu heben, zu beseelen, zu verschönern, und dessen wesentlichen Forderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Ebenso nun auch im religiösen, geistlichen Leben, und ich zähle zu diesen mächtigen Schwung- und Triebwerken vor vielen anderen unbedenklich das Wallfahrten. Die vorgeblichen Missbräuche werden auch hier tausendfach von dem guten Gebrauch überwogen. Ich will indessen hier nichts von einer verborgenen Wirksamkeit des Wallfahrtens sagen. Ich sage nichts von besonderen Gnadenerweisungen, nichts von Wundern, welche da unleugbar geschehen sind. Auch sage ich weder etwas von auffallenden Gebetserhörungen, noch wunderähnlichen Bekehrungen, noch von der Macht eines belebteren Glaubens, und überhaupt nichts von der Kraft der Fürbitte der Heiligen, oder endlich davon, ob nicht Gott an besonderen Orten den Bittenden besonders nahe sein wolle. Ich habe für jetzt einzig nur die natürliche, oder um es so zu nennen, die psychologische Wirksamkeit des Wallfahrtens im Auge. Und in dieser Betrachtung wird es nicht leicht etwas geben, das geeignet wäre, das menschliche Gemüt tiefer und wohltätiger zu erregen, als diese heilige Übung.
Man schreibt allenthalben dem Herauskommen aus dem gewohnten, alltäglichen Einerlei, und dem Anblick ungewöhnlicher Gegenstände eine besondere Einwirkung auf die Seele zu. Um zu anderen Empfindungen und zu neuen Betrachtungen geführt, kurz, um in eine andere als Deine werktägliche Gemütsstimmung versetzt zu werden, musst Du reisen. Warum soll das Wallfahrten im Wallfahrter nicht das Nämliche bewirken? Er hört Neues, er sieht Neues. Schon die Erwartung lüftet ihm ehe er fortgeht, die Empfindungen seines Herzens. Und je niederer er dann steht, je abgeschiedener, je ärmer und enger er lebt, desto weniger ist er das Reisen gewöhnt. Und was in Dir kaum der Weg durch ganze Reiche oder eine Gebirgswelt anzuregen vermag, regt in dieser einfachen Seele der ungewohnte Gang von einigen Meilen an.
Nichts ist ferner richtiger, als dass wir uns von unserem Tag für Tag das Gewohnte, von unseren Geschäften und Sorgen ein wenig ablösen müssen, um unser selbst inne zu werden. Wer niemals aus sich herausgeht, wird nie in sich eingehen. Der Lärm muss verstummen, die brennende Stirn muss sich abkühlen, und das unstet immer auf- und niederwallende Geflute des Herzens sich zur ruhigen Spiegelfläche klären, um Dir, in Dir selbst, in unverschobenem und unverzerrtem Bild auftauchen zu können. Einem großen, ja dem größten Teil der Menschen, deren Tagwerk die Mühe, und deren Nahrung der Schweiß ist, ist - außer den kirchlichen Festtagen, und selbst mehr noch als diese, eine Pilgerreise von etlichen Tagen die einzige Rast im ganzen langen Jahr, welche ihnen neben der Anregung zugleich auch die freie Zeit gewährt, ihren Seelenzustand in eine ernsthafte und wohltätige Prüfung zu nehmen. Indem der Wallfahrter die Seinigen, sein Haus, seine Arbeiten, sein Gewerbe auf eine halbe Woche hinter sich lässt, regt sich das innere Leben, und schwellt gleichsam von selbst, vom äußerlichen Druck entlastet, wie ein werdender Frühling, in alles Empfinden und Denken der Seele. Er gewinnt Raum zum Nachsinnen, das Gewissen kommt zum Wort, der Wille wird gelöst, das Herz taut auf, der Blick hellt sich, und der gewöhnlichen Nahrung beraubt, minder übersehen oder beschönigt, treten die Torheiten, Fehler und Sünden in ihrer wahren Größe und Gestalt, und in ihrer Verwerflichkeit sowohl, als mit allen ihren schrecklichen Folgen lebendiger in das Bewusstsein. Die Wallfahrten sind die geistlichen Übungen des Volkes.
Dem ersten Anschein nach möchte eine solche Wanderung freilich weit mehr zu zerstreuen, als zu sammeln geeignet sein, aber man geht nicht wallfahrten, wie man auf Reisen geht. Und es ist ebenso grundfalsch als lieblos, zu sagen, sie wallfahrten nur aus Neugierde oder anderen irdischen Vorhaben. Unter Tausenden gibt es nicht einen Einzigen, der in der Absicht, sich zu unterhalten, oder zügelloser zu leben, eine solche Pilgerfahrt antritt. Es wird vielmehr jede nur menschliche Rücksicht abgewiesen, und alles nimmt hier eine religiöse Beziehung an. Man besucht einen gnadenvollen Ort, dem man sich nur andächtig nähern darf. Man geht heiligen Dingen entgegen, man will gottselig gestimmt werden. Und anstatt dem Vergnügen zu frönen, wallen sie in der aufrichtigen Meinung: ihr Gewissen zu sühnen, ihre schweren Verirrungen zu beweinen, für ihre Übertretungen etwas zu büßen, ein Gott wohlgefälliges Werk zu verrichten, und durch die wirksame Fürbitte der Mutter unseres Erlösers, oder eines anderen Heiligen, den verlorenen Frieden des Himmels wieder zu erlangen. Dazu bereiten sie sich schon Tage lang vor.
So steigert sich also alles zu heiligen Absichten, zu einer gottseligen Stimmung. Indem sich aber der Pilger zu diesen bußfertigen Werken anschickt, taut seine Seele auch für die sittliche Besserung auf. Fromm und mild gesinnt, scheidet der Mann von Frau und Kind, die Frau von ihren Lieben, Geschwister von Geschwistern, und der Knecht von seinem Mitknecht. Gott weiß, ob sie einander wieder sehen werden! Sie nehmen Abschied, empfehlen sich gegenseitig in den göttlichen Schutz und Schirm; und wenn der Mann gegen die Frau, die Eltern gegen die Kinder, die Schwester gegen den Bruder, der Nachbar gegen den Nachbar etwas Feindseliges hegen, es schmilzt ihnen das Herz. "Gott weiß, ob wir uns wieder sehen!" Sie reichen, ehe sie fortgehen, einander die friedfertigen Hände. Und so versöhnt, wundersam erweicht, verlassen sie gegürtet, den Pilgerstab in der Hand, die Schwelle der Heimat. Da erwacht auf einmal die eingeschlummerte Liebe jung und innig, wieder. Die Sehnsucht sieht ihnen nach, die Sehnsucht schaut zurück, die Sehnsucht begleitet sie, und auf dem ganzen, langen Weg teilen sich nur reumütige und liebende Gedanken in ihre Herzen.
Und wie sehr ist die ganze Reise dieser Pilgrime gemacht, ernste, gute Gefühle und Entschlüsse zu wecken! Sie ist meistenteils lang, ungewohnt und voller Entbehrung, und sie selbst betrachten diesen Gang für einen Bußgang. Weit entfernt, sich etwa gleich uns, wenn wir einige Meilen über Land gehen, in einen sanften Wagen zu setzen, und wo möglich, mit allem was die Sinne und die Bequemlichkeit heischen, reichlich zu versorgen, wallen sie zu Fuß. Ein wenig Brot, das sie mittragen, und etliche Kreuzer ist alles, was sie erquicken kann, und selbst von diesem erhalten den größten Teil wieder die Armen. Unterdessen bringen sie die Stunden mit Beten hin, und legen sich, als genügten die natürlichen Beschwerden des Weges noch nicht, zu Hitze und Kälte, Regen und Wind, Hunger und Durst, und Müdigkeit an allen Gliedern, vielfältig noch freiwilliges Fasten, mit anderen Abtötungen und Bußwerken, auf. Ihre Herberge ist nicht selten der freie Himmel, und der harte Boden oder ein wenig Stroh die ganze Erquickung nach der Mühe des Tages. - Doch gerade dieses soll hier das Gefährliche ausmachen? - Abenteuerliche Vorsichtigkeit, welche die Nächte mit allen schnöden Genüssen frei gibt, und nur in strengen Bußübungen Gefahren sieht! Anstatt mich über körperliche Unfälle oder unsittliche Möglichkeiten zu ängstigen, möchte ich lieber zuerst diese Macht des Glaubens, diesen Ernst in der Sache des Heils, diese Gewalt über die Sinne, wozu wir vielleicht bei all unserer Weisheit nicht mehr stark genug sind, bewundern, und anstatt über Wahn und Aberglaube zu predigen, vielmehr überzeugt sein, dass diese einfachen, empfindlichen Bußübungen die Leidenschaften in Zaum legen, die Versuchungen dämpfen, die sittliche Kraft und Herrschaft der Seele mächtig erweitern, und in den Augen Gottes unendlich verdienstlicher sind, als all unser Wissen und unsere schimmernden Betrachtungen über Religion und göttliche Dinge, denen der Inhalt, die Werke abgehen! Ach, wer gegen sich selbst nie gewalttätig gewesen ist und Gott seine Opfer gebracht hat, hat noch keine Anwartschaft auf das Leben, denn er hat es noch nie errungen, und diese einfältigen, werktätigen Seelen werden einmal, vielleicht gegen uns, die schreckliche Wahrheit bezeugen: dass, wie unser wahres Erkennen durch das Leben bedingt wird, auch alle unsere Wissenschaft eitel ist, ohne die Werke!
Endlich nähern sich die Pilger dem heiligen Ort. Er ist der Gegenstand ihres Verlangens, und lange, und weit her schon haben ihre sehnsüchtigen Blicke seine Türme gesucht. Jetzt kommen sie aus einem Tal hervor, und steigen einen Hügel hinan. Jetzt erblicken sie die Zinnen der Gnadenkirche. Ein Schauer heiliger Rührung überwältigt sie, und Tränen stürzen aus ihren Augen. Sie entblößen ihre Häupter, fallen auf ihre Knie, küssen die Erde, und begrüßen von Ferne die allerseligste Jungfrau Maria oder irgend einen Heiligen. Dann entfalten sie die Fahne des Kreuzes, die vor ihnen her durch die Lüfte weht, und beginnen mit weichen, rührenden Stimmen ihre Litaneien. So wallt der fromme Zug betend, singend und weinend, dass es die Berge hören, in die gnadenvolle Stätte hinab, und ihr erster Gang ist nun, nicht - dass sie essen oder trinken, und den müden Leib erquicken, sondern - in die heilige Kapelle.
Und jetzt musst Du alle die unverhaltenen, ungestümen und herzergreifenden Ausbrüche ihrer gläubigen Begeisterung sehen! Die Wallfahrer denken an nichts mehr, vergessen Hunger und Durst, und durch ihre ermatteten, brennenden Glieder scheint sich neues Leben zu ergießen. Während die andächtigen Gewölbe noch von ihren Lobgesängen widerhallen, drängen sie sich in die wundervolle Kapelle. Hier wallt die Inbrunst über alle Schranken. Kein Auge schweift umher. Ihre Blicke sind nur auf das teure, wundertätige Gnadenbild hingeheftet. Jetzt sehen sie es! Sie sind ihm zu Liebe so weit gegangen! An seinen lang ersehnten Stufen werfen sie sich auf ihr Angesicht, richten sich dann in die Knie auf, und erheben die ausgestreckten, flehenden Arme zu den Füßen Marias oder eines Heiligen. In dieser Stellung verharren sie eine Zeit lang, und Gott allein sieht, was in dieser gesegneten Stunde in diesen tief bewegten Seelen vorgeht! Jegliche schüttet, je nach ihren Nöten, das ganze, überwallende Herz vor dem Gegenstand des Vertrauens aus. Ihre Reue, ihre Vorsätze, ihre Schmerzen, ihre Kümmernisse und Ängste, ihre Gefahren und Sorgen, ihre Bedürfnisse, ihre Danksagungen, ihre Wünsche und ihre zarten Fürbitten für die Lieben in der Heimat, und für alle, die des Heils bedürfen: Alles, alles was den tausendfältig belasteten, frohen oder trauernden Menschen auf dem Herzen liegen kann, wird in diesem Augenblick der Mutter des Herrn vorgetragen, um in vertrauensvollen, inbrünstigen Gebeten für alle Anliegen ihre mächtige Fürbitte zu erflehen. O dieses heilige Ungestüm des Glaubens! Welcher fühlende Mensch möchte solchen Bitten widerstehen! Und Gott, gütig und voll Erbarmen wie Er ist, soll dieses Flehen, das sich allzeit wieder auf Ihn bezieht, und dieses lebendigere Vertrauen, das der Heiland selbst zur Bedingung Seiner Hilfe macht, nicht - auf die inniglichst angerufene Fürbitte Marias oder eines anderen Heiligen - mit reichlichen Gnaden belohnen?
Nach diesen ersten Ergüssen der Andacht und der neu erwachten Liebe, treffen die Pilger Anstalt, sich mit Gott auszusöhnen, und ihre Gelübde zu lösen. Und hier werden wir die Wirksamkeit dieser Wallfahrten in einer anderen Weise sehen. O ich habe dieses heiße Sehnen, diese unermüdliche Geduld, diese unglaubliche Beharrlichkeit, die Tage und halbe Nächte lang ohne Speise und Trank ausdauert, nie anschauen können - ohne tief gerührt zu werden! Indessen atmet in all ihren Andachten und Übungen, im Empfang der heiligen Sakramente, wie in ihren Bußwerken, alles einen aufrichtigen und lebendigen Ausdruck, und die Wallfahrer sind hier viel andächtiger, als sie es sonst daheim sind. Schon durch den ungewohnten Gang, durch die Trennung von der Heimat, und die Eindrücke, die der ihnen drei Mal ehrwürdige Gnadenort auf sie macht, im Innersten aufgeregt, wird diese seelenvolle Stimmung noch höher gespannt durch den ganz eigentümlichen Ernst, mit dem sie an das vorhabende heilige Werk gehen. Sie nahen sich den Füßen eines Priesters, um ihre Sünden zu beichten. Ein wundersamer Schauer überwältigt sie. Sie haben sich tagelang darauf vorbereitet. Sie haben ihren Lebenswandel mit aufrichtiger Sorgfalt durchforscht, und möchten dieses Geschäft des Heils jetzt so vollkommen als möglich verrichten. In dieser glücklichen Gemütsverfassung legen sie nun das unermesslich heilsame Bekenntnis ihrer Schwachheiten und Übertretungen ab. Sie haben es vielleicht in ihrem ganzen bisherigen Leben niemals auf diese Weise getan. Durch und durch bewegt, löst sich auch die letzte Starrheit des Gemüts auf, und Tränenbäche bezeugen, wie die Seele aus dem Sündenfrost, der bisher alle besseren Lebenskeime gebunden hielt, im milden Hauch der Gnade auftaut. "Der Winter ist vorübergegangen, und die Blumen erscheinen auf der Erde!" Es wird da weder dem alten Menschen mit seinem Begehren, noch dem Seufzen und Wimmern des Herzens, das vor dem Entsagen seiner teuren, zarten Neigungen zurückschauert, mehr eine Einrede gestattet. Die Reue ist aufrichtig und tief, übernatürlich und vollkommen, und noch nie hat der Wille so einig mit sich selbst, seine Untreue und seine Verirrungen zurückgenommen, und so entschieden der Sünde ins Angesicht abgesagt.
Zu dieser außerordentlichen kommt dann noch, dass diesen Büßenden auch die Priester, denen sie alle Schwachheiten und Wunden ihres Lebens enthüllen wollen, unbekannt sind. Während daher auf einer Seite das ehrerbietige Zutrauen wächst, verschwindet auf der anderen selbst die letzte menschliche Rücksicht, nämlich die Furcht und Scham vor den Menschen. Und sie enthüllen ihre Gebrechen und Sünden nun so ohne Rückhalt, so redlich, so freimütig, so umständlich, und dabei so demütig, dass sie sich lieber Vergehen, derer sie nicht einmal schuldig sind, anklagen, als eine Übertretung verheimlichen möchten. Muss nicht eine solche Seelenstimmung, und ein solches Bekenntnis schon den Keim der Vergebung in sich tragen? Muss nicht diese bußfertigen Seelen, die so sich selbst richten, die ewige Barmherzigkeit vom Gericht freisprechen, und, wohl drei Mal würdig, wie verlorne und wieder gefundene Kinder in ihre versöhnlichen Arme schließen! Und so vernehmen sie denn jetzt auch aus dem Mund des Stellvertreters Jesu Christi, die allmächtigen und wirksamen Worte: "Deine Sünden sind Dir vergeben! Gehe hin in Frieden, und sündige nicht mehr!" - O Trost, wie es keinen anderen Trost auf der Erde gibt! -
Von diesem Augenblick an, fühlt sich die Seele des Pilgers wie neu geboren, und empfängt nun, also versöhnt, und überselig gestimmt, mit einem Glauben, mit einer Innigkeit und einem Frieden, wie vielleicht keinmal noch, jene wundervolle Speise vom Himmel, welche uns der Gottheit teilhaftig macht, und der Seele das Leben verleiht, weil sie das Leben selbst ist.
Das Wort Gottes hilft endlich das gesegnete Werk noch vollenden. Von dem rührenden Anblick dieser bußfertigen Scharen, die da so weit hergezogen, von der großen, starken Liebe, mit welcher sie das Heil suchen, selbst innig bewegt, und von einer ungewohnten Begeisterung gehoben, redet der priesterliche Herold Gottes voll Kraft und Salbung, und die himmlische Botschaft fließt mit holdseligem Zauber von seinen Lippen: "So hat noch nie ein Priester gepredigt!" Das Erdreich ist aufgelockert; eingetrocknet und dürr wie es war, haben es der Tau der Gnade, und die Tränen der Buße reichlich bewässert. Empfänglich und liebend nimmt er das Samenkorn des ewigen Lebens auf, um es treu und sorgfältig in seinem Schoß zu hegen, und unter den mildtätigen Einflüssen des Himmels hundertfältige Frucht bringen zu lassen.
Ist nun endlich das große Werk, um dessentwillen der Wallfahrter Tagreisen gemacht hat, glücklich vollbracht; ist zwischen seiner Seele und dem Herrn wieder Friede gestiftet; ist der schwere Stein von dem Herzen gewälzt, die Ruhe aufs Neue in dasselbe zurückgekehrt, und kann das Auge nun wieder heiter und getröstet in der schönen Schöpfung umherschauen; so schließen sich die Blicke des Pilgers jetzt auch der äußeren Welt auf. Er beginnt nun diesem Leben wieder anzugehören. Und wie viele neue, belehrende und anziehende Gegenstände drängen sich auf einer solchen Wanderung an dem verwunderten Fremdling vorüber! Er sieht allenthalben, in den Tempeln und ihrer Pracht, in den menschlichen Wohnungen, in den Sitten und Gebräuchen, im Landbau und in den Gegenden, Neues, das ihn anregt und seinen Sehkreis erweitert. Man mag hier immer von Neugierde oder Schaulust reden; es ist wenigstens eine anständige, edle Neugierde, und für den gemeinen Mann eben so wohltätig als für andere das Reisen.
Indessen ist es besonders eins, und ein Anblick höherer Ordnung, der, zumal an größeren, berühmteren Wallfahrtsorten, den staunenden Pilger ergreifen muss. Ich meine das Zusammenströmen der Völker von allen Weltgegenden, von allen Zungen und Trachten. Welchen Eindruck müssen diese Scharen auf dieses einfache schlichte Gemüt machen! Sind es ja überhaupt lange nicht die Gründe und Beweise allein, wodurch wir überzeugen und hinreißen, wir tun dieses nicht weniger durch den Nachdruck der Menge. So lange zehn gläubige, fromme Christen auch nur mit einem Ungläubigen allein sind, wird dieser jene verwirren, denn dies ist auf Erden die unselige Gewalt der Kinder der Finsternis. Wenn aber von nah und fern, von fremden Ländern und einheimischen Gegenden, aus den Tälern und von den Bergen Tausende und abermals Tausende zu einer kirchlichen Feier, oder hier zu einem berühmten Gnadenort herbeiströmen, so gewinnt das ganze, ich weiß nicht welche wundertätige Überlegenheit. Gleichwie in großen Kriegsheeren, oder wenn eine halbe Nation aufsteht und zusammentritt, der Eine in Allen, und Alle in dem Einen mächtig gestärkt, und ihr Mut selbst über ihre Kräfte erhoben wird, so bewirken in ihrer Art, wenn gleich in tausendfältigen Abstufungen, große religiöse Versammlungen große Zuversicht des Glaubens. Der Einzelne wird zur Menge, die Menge zum Einzelnen, der Schläfrige begeistert, der Zaghafte ermutigt, der Zweifelnde entschieden, der Leichtfertige erschüttert, der Erstorbene belebt und der Spötter verstummt vor der Masse. Dasselbe wirkt dies vor allem in der Seele des Wallfahrers. Er hat noch niemals so viele Menschen gesehen! Und alle diese Scharen sind seines Glaubens. "Die alte Religion lebt noch, und unser sind viele! Wir sind nicht die Wenigen, und die ganze Welt stimmt mit uns überein! Die, die unseren Glauben verachten, sind nur die Einzelnen und kaum wie Einer gegen Zehntausende!" Zwar hat der Pilger das Antlitz dieser Menge noch nie gesehen, und er versteht vielleicht weder ihre Mundart, noch kennt er ihre Gewohnheiten, aber sie glauben, was er glaubt, sie gehören zu derselben Kirche wie er. Sie beten, beichten, büßen, empfangen die heiligen Geheimnisse wie er, und verehren wie er das wundertätige Gnadenbild. Sie haben also alle einen Erlöser, eine Kirche, eine Verheißung, eine Hoffnung sowie eine Sehnsucht nach dem ewigen Leben mit ihm. Mag daher auch ihre Gestalt, ihre Heimat und Lebensweise so verschieden sein als sie will: über das "Eine was noch not tut" denken und fühlen sie alle wie Einer, und so fühlt er sich mitten unter Fremdlingen, unter Brüdern und Pilgern, die nach dem besagten Vaterland wallen. Alle diese Eindrücke und Vorstellungen mengen sich mehr oder weniger lebendig und klar in das Erstaunen des Wallfahrers, und wirken, wahr und groß wie sie sind, mächtig dazu, ihn sowohl in der Wahrheit des Glaubens und im christlichen Leben zu stärken, als in der Einheit mit der Kirche zu befestigen.
Mit diesen Empfindungen treten endlich unsere Pilgrime wieder ihre Heimreise an. Sie besuchen zuvor noch die heilige Kapelle, und werfen sich noch ein Mal vor dem Gnadenbild nieder. Sie danken herzlichst Gott und Maria oder dem Heiligen, der hier besonders verehrt wird, empfehlen sich und die Ihrigen in Gottes Schutz und Marias, oder des Heiligen mächtige Fürbitte, und versprechen aufs neue alles zu halten, was sie gelobt haben. Dann ziehen sie betend, wie sie gekommen sind, wieder von dannen. Ehe sie die Höhen hinabsteigen, wenden sie noch einmal ihr Angesicht, und nehmen mit wehmütigen Blicken (vielleicht sehen sie ihn das letzte Mal!) Abschied von dem heiligen Ort. Und nun geht es der Heimat zu. Sie ist dem Pilger während dieser Trennung nur noch teurer geworden. Mit Gott und den Menschen ausgesöhnt, den Frieden im Herzen, reich an empfangenen Eindrücken, voll frommer Entschlüsse und Erinnerungen, wandert er freudig über Berg und Tal, wie einst der Israelit von dem wundervollen Jerusalem zur "Frau seiner Jugend und zum väterlichen Weinstock" heim. Die Sehnsucht fliegt ihm voran, , indessen die Seinigen schon die Stunden zu seiner Ankunft zählen. Endlich kommt er die heimatlichen Hügel herab. Sie eilen ihm mit überwallendem Herzen entgegen, und sie grüßen einander mit verjüngter Liebe wieder. "Ich habe oft an Dich gedacht! Von Maria-Zell was mitgebracht!" Er erzählt ihrem frommen Erstaunen von den Wundern des Gnadenortes, und ruft seiner Seele noch oft in rührenden Bilden die andächtige Zeit seiner Pilgerfahrt zurück.
Dieses, o Geliebter! sind einige zwar flüchtige, doch wahre Züge aus dem Leben der Wallfahrten. Es mag allerdings sein, dass sie Dir nicht allenthalben, und zumal in unbedeutenderen Orten, in dieser lebendigen Wirksamkeit erscheinen. Allein dies ist der Geist und das Walten jener uralten heiligen Sitte der Kirche. Wer möchte sie darum tadeln, oder gar sie verwerfen? O könnten wir Bethlehem, jenen Stall, wo Jesus geboren worden ist, jene geheiligten Gefilde, wo einst seine segnenden Füße gegangen sind, jene Orte, die Zeugen Seiner Wunder gewesen sind, jenen Hügel, auf dem Er für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist, und jenes Grab sehen, das Ihn umschlossen hat, könnten wir den wunderbaren St. Peters-Dom mit den Gräbern der heiligen Weltapostel betreten! - und - was sage ich? - hätten wir noch jene Unbefangenheit des Glaubens, jenen tiefen Ernst und der Erwerbung des Heils, jene sittliche Kraft für den Himmel etwas zu tragen, jene Fülle des innigen Gemüts und jene leibliche Gewalt über unsere Sinne, nur um die Pilgerfahrt in einen näheren Gnadenort der heiligen Jungfrau mit gläubigem Sinn zu machen: wir wissen nicht, welche Empfindungen da unsere Seele überwältigen würden! Mein Gott, es braucht sogar wenig Verstand, um über Aberglauben und über Ausschweifungen in der Frömmigkeit zu schreien! Aber wir plaudern gewöhnlich in dem Maße darüber, als uns der lebendige Glaube bereits abhanden gekommen ist, und halten meistenteils die strengeren Übungen der Religion von dort an für unnötig, von wo wir ihrer ohnmächtig werden. Man darf auch hier sagen: "Tu die Sache, und du wirst aufhören ihr Feind zu sein!" Wir wissen alle, dass Gott, allgegenwärtig wie er ist, uns wohl auch allenthalben nahe sein möge, wenn wir ihn anrufen. Wir wissen, dass wir überall Erhörung unserer Gebete erlangen, überall entschiedene Buße wirken, Vergebung der Sünden erhalten, oder die Heiligen anrufen können: allein sage, durch welchen Zauber der Rede, oder durch welche kirchliche Feierlichkeit werden wir in jenem einfachen, nicht selten tief gesunkenen und verhärteten Volk, diese heilsame Stimmung, diese Lebhaftigkeit des Glaubens, diese tiefe Erschütterung, diese bessernden Entschlüsse, diese Wunder wahrer Bekehrung bewirken? Und gleichwohl ist nichts wahrer, als dass selbst der regelmäßig hinlebende Mensch von Zeit zu Zeit auf eine ungewöhnliche Weise ergriffen und im Innersten aufgeregt werden muss, wenn sein besserer Teil zum überwiegenden, freien Leben durchbrechen soll. Dies aber tun die Wallfahrten. Und so vollbringt unzählige Male ein solcher Bußgang, was wir vielleicht mit den schönsten Lehren, mit den kräftigsten Predigten, weder mit Bitten und Drohungen, noch mit dem glühendsten Seeleneifer, oder nur selten, ins Werk zu setzen vermögen. Ach, wie wenig kennt man den Menschen, der selbst in seiner Heiligung immer noch Mensch bleibt! oder vielmehr, wie wenig kennt man das Volk, und wie lässt man hier die einfachsten Regeln der Seelenlehre aus den Augen! Und welchen Begriff mögen sie sich von der Religion machen, welche in Beziehung auf uns allzeit mehr Innigkeit und Seele als bloßer Gedanke ist, und deren Wirkungen weit mehr Gemüt und Liebe sind, als bloßes Wissen oder stoisches Handeln.
Indessen löst man sich den ganzen vermeintlichen Inhalt derselben in einige Grundsätze ab, und bildet sich ein, mit dem nackten Verstehen der Glaubenswahrheiten auslangen zu können, während man das Herz ihren befruchtenden Einflüssen verschließt. Selbst ohne Wärme und Leben, selbst eingeschrumpft und allem reicheren Empfinden erstorben, bedürfen sie keiner religiösen Feierlichkeiten, keines Gottesdienstes (oder je dürrer je lieber!), keiner erhebenden Gebräuche, keiner Kirche, kurz, nicht eines Hauses des lebendigmachenden Geistes mehr. Pure Geister ohne Seele, verflüchtigen sie ihre ganze Religion in etliche altväterliche Klugheitsregeln, und meinen damit Wunder, welche unerreichbare Weisheit an den Tag zu fördern! Das trostlose Soll, wenn es hoch kommt, ist ihr einziger Geisteshebel, und den kategorischen Imperativ in der Brust, wähnen sie die ganze Welt selig zu machen ! - Wie arm, wie unselig! -
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2. Drei Pilgerinnen zur heiligen Maria von den Engeln
(Aus: Die heilige Franziska Romana von M. Th. von Bussière)
Die heilige Franziska Romana, fortwährend in ihren Gedanken damit beschäftigt, sich durch die Bande der Religion inniger mit Gott zu vereinigen, ging eines Tages aus der Kirche Santa Maria Nuova zu Rom mit den Frauen, die auch gewöhnlich dahin kamen. Oft hatte ihnen die Heilige ihre Bewunderung über den Benediktiner-Orden ausgesprochen, über die großen Bestimmungen, die ihm für die Zukunft vorbehalten wären, von den Gnaden, Erleuchtungen und Heilmitteln, die diejenigen empfangen, die ihm eingeschrieben sind. Sie nahm den Inhalt dieser Unterhaltung wieder auf und sagte zu ihren Gefährten, dass sie alle an den Verdiensten dieser guten Religiosen teilnehmen würden, wenn sie sich der heiligen Jungfrau Maria unter dem Titel der "Oblaten von Santa Maria" aufopfern und sich gewissen, aus der Ordensregel des heiligen Benedikt angenommenen Vorschriften unterwürfen, denen sich auch Personen unterziehen könnten, die durch ihren Stand berufen wären, in der Welt zu leben. Franziskas Freundinnen äußerten ihr Wohlgefallen an dem frommen Gedanken, den Gott ihr eingegeben hatte, und mit allgemeiner Übereinstimmung baten sie sie, sich mit der Ausführung dieses Planes zu beschäftigen.
Der Vize-Prior, der damals in der Abwesenheit des Prälaten von Santa Maria Nuova regierte, nahm die Mitteilung Franziskas günstig auf, bevollmächtigte sie und ihre Freundinnen, den Titel der "Oblaten (Geopferten) von Santa Maria" anzunehmen, und verpflichtete sich, vom General-Abt die Vollmacht zu erbitten, sie ihrem Kloster einzuverleiben und sie der Verdienste und Gebete des Benediktiner-Ordens teilhaftig zu machen. - Diese Antwort brachte die Herzenswünsche Franziskas und ihrer Genossinnen in Erfüllung, und sie bereiteten sich durch Fasten, Gebete und Bußübungen vor, um sich der heiligen Jungfrau Maria zu weihen.
Als die Erlaubnis angekommen war, bestimmte man, dass die feierliche Opferung am 15. August 1525, dem Fest der Himmelfahrt Mariä, stattfände. An diesem Tag begaben sich die ersten Glieder ihrer Kongregation mit Sonnenaufgang nach Santa Maria Nuova. Sie beichteten alle, empfingen ihre Instruktionen und dann kommunizierten sie während der heiligen Messe. Im Anschluss vollzogen sie die Aufopferung ihrer selbst an die heilige Mutter Gottes, und statt sich mit feierlichen Gelübden zu binden, waren die Oblaten nur dem Benediktiner-Orden des Berges Oliveto einfach angeschlossen. - So war der erste Anfang der edlen Kongregation Franziskas. In dieser Zeit waren die Oblaten ganz unabhängig, die eine von der andern, sie lebten keineswegs an demselben Ort und besaßen kein gemeinschaftliches Oratorium. Keine bekleidete ein besonderes Amt; ihnen war einfach empfohlen - eine große Ehrfurcht vor den Geboten Gottes und der Kirche, eine zärtliche Andacht zur allerseligsten Jungfrau Maria, der öftere Empfang der heiligen Sakramente der Buße und des Altars und die Ausübung christlicher Pflichten, besonders der Werke der Barmherzigkeit. Dennoch verknüpfte sie ein gemeinschaftliches Band; alle besuchten die Kirche Sante Maria Nuova, alle kommunizierten zusammen an jedem Festtag der glorreichen Himmelskönigin, alle auch verehrten Franziska in der Eigenschaft einer geistlichen Mutter. Sie vereinten sich um die Heilige, empfingen ihre Befehle, trachteten ihr Beispiel nachzuahmen, und erklärten ihr ihre Versuchungen, um nach ihren Unterweisungen zu wandeln, zu kämpfen und zu siegen. Franziska jedoch, weit entfernt, ihren Freundinnen zu befehlen, betrachtete sich als die Schwächste und Letzte unter ihnen. Man hörte sie oft mit Jubel ausrufen: "Ich gehöre mir selbst nicht mehr an, ich bin eine Geopferte (Oblata) der mächtigsten Königin der Engel; sie ist meine Herrin und meine Frau, ich bin ihre Untergebene, ihre Dienerin, ihre Sklavin!" Dann lud sie ihre Gefährtinnen ein, sich dieses Glückes zu erfreuen und es höher zu schätzen, als alle Ehren der Welt. Die Worte der Heiligen waren so glühend und eindringlich, dass alle Oblaten mit Freuden der Welt entsagten, um sich auf den Wanderungen christlicher Liebe zu begleiten und möglichst lange Zeit um sie sein zu können. Sie verließen sie nie anders, als erfüllt vom Geist des Friedens und des Trostes und beseelt von dem heißen Verlangen, sie möglichst bald wieder zu sehen.
Im folgenden Jahr nach ihrer Aufopferung beschloss Franziska eine Wallfahrt nach der heiligen Stätte "Maria von den Engeln" in Assisi zu unternehmen, um ihre Andacht zu der Königin des Himmels und zu dem liebenswürdigen seraphischen Heiligen, dessen Namen sie trug, zu entsprechen. Sie teilte ihr Vorhaben den beiden Oblaten Vanozza Santa Croce Ponziani und Ritta de` Celli mit, und fand diese geneigt, sie zu begleiten. Man kam überein, so abzureisen, dass man am 2. August in Assisi eintreffe, an dem berühmten Ablasstag "Del Perdono".
Da die drei Oblaten die Absicht hatten, eine Andachtsreise zu machen und den Geist der Armut und der Buße des heiligen Franziskus nachzuahmen, so wollten sie sie als wahre Pilger unternehmen, ohne Wagen, ohne Geld, und ohne irgend welchen Vorrat.
Die drei Frauen, sehr ärmlich gekleidet, verließen allein und zu Fuß die Stadt Rom gegen Ende des Monats Juli. Man hätte sagen können, der Glaube, die Hoffnung und die Liebe seien personifiziert. Sie hatten sich im Voraus schon eine Art Plan ausgedacht, um möglichst viele Frucht aus jeder Tagreise zu ziehen. Die Stunden wurden nach und nach zu Betrachtungen der ewigen Wahrheiten, des bitteren Leidens Jesu Christi, zum Beten des Offiziums der heiligen Jungfrau, des heiligen Rosenkranzes und noch anderer Gebete verwendet. Wenn die Pilger das Stillschweigen brachen, so geschah es nur, um von Gott und Maria zu reden; und da wurden Franziskas Ansprachen ein neuer Gegenstand der Betrachtung für ihre Begleiterinnen und erregten in ihren Herzen die glühendsten Liebesflammen. Sie waren ihr von dem heiligen Erzengel eingeflößt, dem mysteriösen Beschützer der Oblaten, sichtbar nur der einen von ihnen und der vierte Gefährte dieser mystischen Reise. Franziska liebte es, ihre Freundinnen von den Segnungen einer solchen Wallfahrt zu unterhalten. Sie betrachtete die Wallfahrt wie eine Schule christlicher Vollkommenheit. "Man lernt," sagte sie u.a. zu ihnen, "sich mit gar Wenigem begnügen und man hängt sich gar nicht so an die Güter der Erde, denn schnell durchwandert man einen Ort, und zögert nicht, von ihm wieder zu scheiden."
Wenn die drei Frauen in eine Stadt kamen, wo sie übernachten sollten, verfehlten sie nicht, zuerst in die Kirche zu gehen, dort lange das hochheilige Sakrament des Altars anzubeten und die Reliquien der Heiligen, die je dort aufbewahrt wurden, zu verehren. Nachdem diese Pflicht erfüllt und ohne sich jemals mit den, dem Auge der Welt nur merkwürdigen Gegenständen zu beschäftigen, die der Ort darbot, gingen sie, gastliche Aufnahme um der Liebe Gottes und Marias willen, in irgend einem frommen Haus zu suchen, und begnügten sich mit der bescheidenen Nahrung, die man ihnen als Almosen reichte. Den folgenden Tag, nachdem sie den Wohltätern herzlich gedankt hatten, wohnten sie der heiligen Messe bei, kommunizierten und begaben sich wieder auf den Weg, ohne die Faste gebrochen zu haben.
Endlich gelangten die Pilgerinnen in der Ebene von Foligni an. Ein unbeschuhter Religios, angetan mit einem langen bräunlichen wollenen Habit, gleich den Franziskanern, und auf seinen Stab gestützt, nahte sich ihnen und fragte sie liebreich, wohin sie gingen. Franziska befragte ihren Erzengel, und sie sieht ihn leuchtender denn je. Ströme des Lichtes fluten aus seiner luftigen Gestalt und umhüllen und durchdringen den Mönch. Darauf, alle Furcht verbannend, antwortete sie mit wenig Worten dem Fremden auf seine Anfrage und berichtete ihm das Ziel ihrer Wallfahrt. Der Religios nahm nun auch das Wort, erklärte ihnen die großen Vorzüge der unbefleckt empfangenen Jungfrau Maria, die Liebe, die das ewige Wort gedrängt hat, Fleisch anzunehmen aus dem Schoß der reinsten Jungfrau, um ein sündiges Menschengeschlecht zu erlösen, und dann die unaussprechlichen Schmerzen des bitteren Leidens und Sterbens des anbetungswürdigen Lammes Gottes Jesus Christus. Diese Erläuterungen entgleiten seinen Lippen wie Feuerströme und erfassen die Herzen der Pilgerinnen. Die Klarheit des Erzengels wird immer leuchtender, die Sonne ist weniger strahlend, der Blitz hat weniger Licht. Der Mönch selbst ist gekrönt mit Strahlen, ähnlich denen, die den Heiligenschein von Franziskas himmlischem Schutzpatron bilden, ein himmlisches Feuer belebt seine Blicke, eine übernatürliche und wunderbare Schönheit verklärt seine Person. Franziska und ihre Begleiterinnen neigen sich demütig vor dem Seraph von Assisi, den sie endlich erkennen.
Der heilige Franziskus betrachtete mit Liebe und herzlicher Teilnahme die armen, noch auf der Erde verbannten Pilgerinnen, fern von dem schönen wahren Vaterland, und noch ausgesetzt den furchtbarsten Lebenskämpfen. Er sieht, dass häufiger Schweiß über ihre Stirnen rinnt, auf die eine Julisonne wie Blei drückt, und ihre keuchende Brust zeigt, dass sie noch nicht den Durst des Tages gestillt hatten. Von Mitleid ergriffen schlägt er mit seinem Stab auf einen wilden Birnbaum, nahe an der Straße. Eine Frucht fällt herab, und der Heilige verschwindet. Aber kaum ist die Birne herabgefallen, da reift sie die Sonne, und sie wächst in einem Augenblick derart, dass zwei Hände sie kaum umfassen können. Sie genügt darum, die Erschöpften reichlichst zu erquicken. Nachdem sie niedergekniet, um Gott für die Hilfe zu danken, die er ihnen so wunderbar geschickt, setzten sie ihre Wanderung fort und gelangten glücklich am Tag des großen Ablasses in die Kirche der heiligen Maria von den Engeln. Sie beichten und kommunizieren am Altar der heiligen Jungfrau. Dort erneuern sie ihre Aufopferung an die glorreiche Himmelskönigin und empfehlen der Mutter der Barmherzigkeit sich und die Schwestern, die sie in Rom zurückgelassen hatten. Franziska verfällt in Verzückung und eine himmlische Stimme befiehlt ihr, das angefangene Werk fortzuführen. Es wird ihr angekündigt, dass, nachdem sie ihre geistlichen Töchter durch den Geist der heiligen Liebe vereinigt, sie auch in einer gemeinschaftlichen Wohnung versammeln und als Kongregation konstituieren soll. (Sie bildeten später die Kongregation der Oblaten von Tor die Specchi.)
Santa Francesca Romana and the Tor de' Specchi
Zu sich gekommen, erwähnte die Heilige vor ihren Begleiterinnen noch nichts von dieser Offenbarung. Alle drei begaben sich nach der Stadt Assisi, um den Körper des heiligen seraphischen Franziskus, die Stätten, die durch seine Gegenwart besonders geheiligt wurden, und auch den Ort zu verehren, wo die Reliquien der heiligen Clara, seiner geistlichen Tochter, ruhten. Überall vergossen sie Tränen der zärtlichsten Andacht. Ihr Gebetseifer, ihre Demut und ihre Geistessammlung zogen die Blicke und die Aufmerksamkeit der Fremden auf sich, die an diesen Heilstagen zu Assisi so zahlreich zusammenströmten. Franziska jedoch und ihre Begleiterinnen hatten, weil vertieft in ihre Betrachtungen, kein Bewusstsein von der Ehrfurcht, die man ihnen bezeigte.
Nachdem sie ihrer Andacht Genüge getan hatten, begaben sich die drei ehrwürdigen Frauen - voll von Freude und unaussprechlicher Liebe zu Gott und Maria - auf die Rückreise, ohne im Geringsten die für ihr Tun und Lassen vorgeschriebene Regel zu ändern.
Franziskas Heimkehr war für die Oblaten von Santa Maria Nuova ein Grund des herzlichsten Jubels und der Danksagung. Sie fand die frommen Dienerinnen Mariä so wieder, wie sie sie verlassen hatte, vereint im Geist der Liebe und der Andacht, und setzte mit ihnen die Lebensweise und gewohnten Übungen zum Preis Marias wieder fort.
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3. Ein Wallfahrtstag in Marienthal
(Aus: Katholisches Volksblatt für alle Stände von Franz Sausen)
Die erst vor wenigen Jahren aus dem Schutt wiedererstandene Wallfahrtskirche zu Marienthal im Rheingau ist den Bewohnern dort und selbst weiter Entfernten von jenseits des Rheins bereits lieb und wert geworden.
Es ist auch in der Tat schon das stille friedliche Tälchen, umgeben von waldigen Hügeln und mehr noch der Anblick des hell und freundlich aus dem Grün hervortretenden Kirchleins so recht geeignet, auf jedes Gemüt den wohltuendsten Einfluss auszuüben, - tritt man in das Innere des Gotteshauses, so mahnt es gleich zu heiliger Andacht und namentlich ladet hierzu ein das geheimnisvolle Halbdunkel der kleinen Marianischen Gnadenkapelle in ihrer nunmehr vollendeten, geschmackvollen und gelungenen Ausmalung durch die Hand des Malers Baudrechsel aus Dietkirchen bei Limburg an der Lahn, dessen Leistungen u.a. in der Kirche zu Hadamar, bereits selbst aus dem Mund des Professors Deger belobende Anerkennung gefunden haben.
Ist daher der Besuch dieses Wallfahrtsortes schon während des ganzen Jahres, besonders zur Sommerzeit, ein reger, so pflegt derselbe sich in den ersten Tagen des Monats September in bedeutendem Maß zu steigern, da alsdann zahlreiche Prozessionen aus den benachbarten Orten daselbst eintreffen. Am achten des genannten Monats nämlich, als am Fest Mariä Geburt, wird dort das Titularfest mit Oktav und am Sonntag darauf - zur Erinnerung an die im Jahr 1858 am 8. September stattgefundene Einweihung der wieder aufgebauten Kirche, das Kirchweihfest ebenfalls mit Oktav gefeiert. - Wer in diesen Tagen dem Gottesdienst zu Mariental angewohnt hat, wird es gewiss als eine erfreuliche Erscheinung und als einen Beweis des neu erwachten frommen Sinnes begrüßt haben, dass die verschiedenen Gesangsvereine der benachbarten Orte zur würdigen Begehung dieser Feste und zur Förderung der Andacht in den Herzen der Wallfahrer mit anerkennenswerter Aufopferung und löblichstem Wetteifer ihre Mitwirkung boten. So sang am Kirchweihfest, also am Sonntag in der Oktav Maria Geburt, während einer vom Hochwürdigsten Herrn Bischof von Limburg, der sich augenblicklich in Marienthal aufhielt, zelebrierten heiligen Messe ein gemischter Gesangchor aus der kleinen Gemeinde Stephanshausen mehrere vierstimmige lateinische und deutsche Lieder mit Präzision und erbauendem, besonders der stillen Feier des heiligen Messopfers angemessenem Piano des Ausdrucks vor. Während des Hochamtes an demselben Tag führte der über ausgezeichnete Kräfte verfügende, um die Hebung des Gottesdienstes zu Marienthal schon seit längerer Zeit hochverdiente Kirchengesangverein von Geisenheim eine aus verschiedenen schwierigen Kompositionen zusammengesetzte musikalische Messe auf, sowie in der lateinischen Vesper des Nachmittags ein vierstimmiges Magnifikat nebst andern, teils mehr- teils einstimmigen Liedern. Am Oktavtag der Kirchweihe kam der Cäcilienverein von Kempten aus der Diözese Mainz mit seiner neuen Fahne und sang mit Korrektheit die so hehre deutsche Messe von Haydn in vierstimmigem Satz. - Am Nachmittag desselben Tages belebte sich das Tal durch eine zahlreiche, in musterhafter, erbaulicher Ordnung von ihrem Herrn Pfarrer und Frühmesser geführte Prozession aus Rüdesheim, bei deren Nahen die Klänge eines wiederum mehrstimmigen Frauengesanges in die bereits mit Andächtigen gefüllten Räume der Kirche drangen und die Herzen zu freudigerem Lob Gottes und seiner gebenedeiten Mutter stimmten. In der Kirche angelangt, begrüßte alsbald der Männerchor in würdigster Weise mit einigen recht schön vorgetragenen Liedern die allerseligste Jungfrau Maria, worauf die Kirchweih-Oktav mit Predigt und sakramentaler Andacht geschlossen wurde. Unterdessen hatte sich auch der Verein von Geisenheim wieder eingefunden, der selbst nach der Beendigung des Gottesdienstes nicht müde wurde, der gnadenreichen Himmelskönigin vor ihrem Bild lobzusingen. - Unter dem Eindruck von all dem, was wir da sahen und hören, drängte sich unwillkürlich uns der Gedanke auf: "Nun, ein Land, wo aus so vieler Brust und Mund dem Herrn und seiner Mutter noch ein so freudiges Lob erschallt, - Maria wird es schützend unter ihren Mantel bergen. Und wenn auch im Paradies dieses Gaues die Schlange hinterlistig lauert, so wird doch jene ihr den Kopf zertreten!"
Noch muss eines rührenden Auftritts Erwähnung geschehen. - Am Fest Mariä Geburt (1864) kamen auch einige Barmherzige Schwestern aus dem St. Rochushospital zu Mainz mit einer Anzahl ihrer Pflege und Erziehung anvertrauter Waisenkinder nach Marienthal. Die Schwestern hatten die Freude, ihre kleinen Pflegebefohlenen, an denen sie so liebevoll Mutterstelle vertreten, dem Hochwürdigsten Herrn Bischof von Limburg, Dr. Petrus Joseph Blum, vorstellen zu dürfen, der sich vor dem Eingang zu dem dortigen Priesterhaus aufs huldvollste und freundlichste mit den Kleinen unterhielt. Als nun der Bischof seine Stimme erhob, um einige Worte an die Waisen insgesamt zu richten und sie daran erinnerte: dass sie, da die irdischen Eltern ihnen entrissen, zu ihrer himmlischen Mutter gekommen seien, dass diese jetzt Mutterstelle an ihnen vertreten wolle, und, auf die Barmherzigen Schwestern hindeutend, dass Gott ihnen auch hier schon solche wiedergegeben, die ihnen heilige Mutterliebe erwiesen," - so blieb den Kindern und den Erwachsenen kein Auge tränenleer.
Gott segne Marienthal und die Pilger dahin!
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4. Das Gelöbnis einer Wallfahrt
(Aus: Lehrreiche Unterhaltungsschriften. Sulzbach. Verlag der von Seidel`schen Buchhandlung.)
1. Hastig eilten die Bewohner der freundlichen Stadt B. in Oberfranken an einem schönen Sommertag aus den engen Seitengässchen der belebten, breiten Hauptstraße zu und richteten neugierig ihre Blicke in die Ferne, von wo sich die feierlichen Töne einer Musik vernehmen ließen, der abwechselnd die erhebende Melodie des bekannten rührenden Marien-Liedes: "Mutter Christi, hoch erhoben!" aus hundert und hundert Kehlen antwortete. Nach und nach bildeten sich förmlich Spaliere und entblößten Hauptes harrte man der herannahenden Wallfahrer.
Die Fenster der umliegenden Gebäude hatten sich indessen gleichfalls mit Neugierigen gefüllt, und wir bemerken besonders darunter in dem mittleren Stockwerk eines großen Hauses einen jungen, kräftigen Mann, den erst kürzlich angestellten Gerichts-Assessor Reinhard, und an dessen Seite eine Frau, in der schönsten Blüte der Jugend und Anmut prangend. Die zarten, weißen Hände auf der Brust gefaltet, spähte sie mit gebeugtem Haupt und freudigem Blick dem Zug entgegen, der jetzt sichtbar wurde, und sang leise die Melodie des hehren Wallfahrtsliedes mit. Das blumenumkränzte Bild des Erlösers an der Spitze - eröffnete die Schuljugend in wohlgeordneten Reihen mit flatternden Fahnen die Prozession, der die älteren Glieder der Gemeinde, ihren ehrwürdigen Pfarrherrn in der Mitte, singend und betend folgten. Alte Mütterchen schlossen in gewohnter Weise die Reihen, indem sie die Perlen des Rosenkranzes, ihres einzigen und besten Gebetbuchs, durch die Finger gleiten ließen.
"Welch eine schöne und große Prozession!" begann die junge Frau, während sie noch lange den dahin Wallenden nachblickte; "man sieht diesen braven Leuten ordentlich die Andacht an, mit der sie singen und beten; alles so kräftig und ernst, als wenn sie einzig und allein von oben Trost und Hilfe erwarteten!"
"Ein veralteter Gebrauch, liebe Luise, das Wallfahrten; passt nicht mehr recht in unsere vorgeschrittene Zeit!" bemerkte leichthin der Assessor.
"Warum?" rief diese erstaunt! "Was gut ist, passt zu allen Zeiten!"
"Gut kann ich es doch nicht nennen, wenn oft ganze Ortschaften bei Hitze und Regen aufbrechen und Stunden, ja oft Tage weit an einen Wallfahrtsort ziehen, während zu Hause die ganze Zeit über die Arbeit feiert und alles darnieder liegt. Doch das wäre noch nicht das Schlimmste. Wie Mancher zieht sich durch das Ungewohnte der beschwerlichen Reise, oder irgend einen anderen unglücklichen Zufall, Unwohlsein und Krankheit zu, während sich auch, nebenbei bemerkt, oft gar Manches ereignen soll, das mit der von Dir gerühmten Frömmigkeit durchaus nicht im Einklang steht."
"Du malst ja überaus schwarz!" entgegnete lächelnd die junge Frau. "Einzelfälle, ob gut oder schlecht, bilden doch nie das Ganze. Zogen wir ja auch neulich mit den hiesigen Sängern aufs Land, und ließen unsere Lieder über Berg und Tal erschallen. Bis in die tiefe Nacht währte die Freude. Keiner wollte zurückbleiben. Wie manche Arbeit wurde da versäumt, wie manche Heiserkeit und sonstige Nachwehen mögen sich des anderen Tages eingestellt haben; wie Manches, wenn es bekannt würde, möchte streng zu rügen sein: war aber deshalb das ganze Vergnügen zu tadeln oder gar schlecht zu nennen? Ein Vergnügen - zudem mit dem erhabenen Zweck einer Wallfahrt gar nicht vergleichbar!"
"Ei, wie klug! Du verteidigst Dich ja ganz eigentümlich. Das aber wirst Du doch zugestehen müssen, dass jeder ebenso gut zu Hause beten kann. Dafür ist ja seine Pfarrkirche vorhanden; in die soll er gehen und beten; oder wird er vielleicht da weniger erhört?"
"Ich kannte ein Mädchen," erzählte ruhig die Gattin, "dessen Bräutigam eine Reise nach der Residenz unternahm, um seine längst ersehnte Anstellung zu erwirken. Da versprach sie: "ein armes Kind zu kleiden, wenn von dem Fernen erfreuliche Botschaft käme," und ihr Bräutigam war nicht allein damit einverstanden, sondern über dieses fromme Gelübde höchst erfreut. - Ich kannte aber auch einen jungen Mann, der sich zu diesem Zweck willig zweimal der beschwerlichen Reise dahin unterzog, dort nach seinem eigenen Geständnis in Vor- und Wartezimmern sich Stunden lang herumtreiben und viele gute, sowie vergebliche Schritte und Gänge machen musste, bis endlich sein heißer Wunsch erhört wurde."
"Weiter!" rief überrascht der Assessor.
"Nun, die Anwendung ist leicht. Jeder kommt in ähnliche Lagen, und auch solche, wo Menschen nicht mehr helfen können; aber nicht jeder kann Geld und Gut opfern. Er verspricht daher einen Bittgang unter Beten und Fasten; er geht eben dahin, wo durch seine Minister, die Heiligen, der liebe Gott Gnaden austeilt; an Gnadenorte, durch Wunder und Zeichen verherrlicht."
"Müssen deshalb ganze Orte aufbrechen?" warf halb geschlagen der Assessor ein.
"Sieh, mein lieber Reinhard, abgesehen von dem Unglück, das oft ganze Orte, ja ganze Gegenden und Länder trifft, und um dessen Abwendung man fleht, hat gewiss jeder Mensch entweder etwas zu bitten, oder zu büßen oder ein Versprechen zu halten. Wie schön mag es sein, mit gleichgesinnten Freunden und Bekannten dies zu erfüllen, so auf freiem Feld dahin zu wallen, wo wir die endlosen Werke der Allmacht, Güte und Weisheit unseres himmlischen Vaters vor Augen haben. Wer in solcher Gemeinschaft der Gläubigen, in diesem von dem Herrn selbst errichteten, erhabenen Tempel kein Vertrauen bekommt, nicht zur Andacht und Frömmigkeit gestimmt wird, der wird es nie und nimmermehr. Das ist indes nur so meine eigene, hausbackene Verteidigung; die katholische Kirche hat aber hierbei noch viele andere und gewichtigere Gründe. Wie vor aller Welt offenbar kann man zum Beispiel bei solchen Gelegenheiten zeigen, dass man in Wort und Tat Katholik ist, gegenüber dem Schwarm unverbesserlicher Spötter und Verächter religiöser Gebräuche!"
"Ach! Dann stehe ich gewiss bei Dir in Gunsten," unterbrach hier Assessor Reinhard; "wohnte ich nicht der letzten Fronleichnams-Prozession auch bei?"
"O ja, mein Guter, aber kommandiert, kommandiert samt der Uniform!" bemerkte lächelnd Luise; "eine vergoldete Nuss ohne Kern!"
Wiederholtes Klopfen, das einen Besuch ankündigte, unterbrach hier das so eifrig geführte Gespräch der jungen Ehegatten.
2. Zwei Jahre waren seit diesem Gespräch dahin gegangen, und es gelang indessen dem mächtigen Einfluss und der unwiderstehlichen, weiblichen Frömmigkeit, die Herzen von Stein aufzutauen vermag, auf den in religiöser Beziehung ziemlich leichten Sinn des Assessors einen nicht unwohltätigen Einfluss auszuüben.
Wir wollen deshalb noch einmal die alten Bekannten heimsuchen und sogleich in die Wohnung eintreten. Doch - da umflort Trauer und Wehmut jedes fühlende Herz, und fast scheu weicht unser Schritt zurück, denn diese freundliche Behausung - noch vor Kurzem Sitz der Freude und des ungetrübten Wohlergehens - hatte dem Einzug tiefen Schmerzes und herben Kummers ihre Pforten geöffnet. Trotz des anmutigen Sommertages herrscht fast tiefe Dämmerung im Innern, da die Fenster dicht mit Vorhängen verhüllt sind und unter diesen nur ein halber Flügel sich öffnet, um die frische balsamische Luft einzulassen. Geschützt gegen jedes Ungemach, steht im unteren Teil des Zimmers ein Bettchen, das den Erst- und Einziggeborenen des jungen Paares birgt. Der muntere Knabe, seither die Freude und der Stolz seiner Eltern, ist seit mehreren Wochen einer bösartigen Krankheit unterlegen, die sein junges Leben zu vernichten droht. Mit tränenschwerem Blick hält das treue Mutterherz Wache bei dem kleinen Liebling, dessen Wangen von Fieberhitze gerötet sind und dessen leiser Atem sich nur mühsam aus dem Brüstchen empor arbeitet. Das Feuer in der Mutter Auge ist erloschen, Nachtwachen und stete ängstliche Sorge haben ihre blühenden Wangen gebleicht. Man hätte glauben mögen, sie selbst sei erst von einer schweren Krankheit erstanden. Ihr schlanker Körper ist wie ein schützender Schild über das Bettchen gebeugt und nur manchmal lauscht sie mit erhobenem Haupt, ob nicht bekannte Schritte sich nähern. Reinhard hatte nämlich den Arzt hinwegbegleitet, der auf der Mutter dringendes Bitten und stürmendes Fragen nur ein Achselzucken als Antwort hatte. Endlich kehrte der Ersehnte leisen Schrittes ins Zimmer zurück.
"Es ist noch Hoffnung, liebe Louise," tröstete er, die Hand seiner guten Frau fassend und mit Tränen im Auge; "doch müssen wir auf alles, selbst das Schlimmste gefasst sein!"
Ach, wie der Blitzstrahl aus schwerer Gewitterwolke mit einem Schlag die hundertjährige Eiche knickt, brach diese Botschaft die mühsam bewahrte Kraft der frommen Mutter und fast bewusstlos sank sie auf einen Stuhl zurück. Nur ihres Mannes Trosteswort: "Vertraue auf Gott, teure Luise! Zeige jetzt dein Vertrauen zu ihm in Wirklichkeit und in der Tat!" konnte die Arme allmählig wieder aufrichten.
"Du hast Recht," sprach sie nach Fassung ringend, "des Allmächtigen Wille geschehe! Ich sehe schon, menschliche Hilfe reicht nicht aus. Die gebenedeite Jungfrau Maria aber, immer mein Trost und meine Zuflucht, wird mein heißes Flehen gewiss noch erhören!"
Mit kindlichem Vertrauen wandte sie sich, gleichsam beseelt von einem neuen rettenden Gedanken, zu einem lieblichen Madonnenbild, das das Zimmer schmückte, fiel auf die Knie nieder und betete laut mit zum Himmel erhobenen Händen: "O Maria! Mutter Gottes, verlass mich nicht! Bitte bei Jesus, Deinem geliebten Sohn, für mein armes Kind, dass es mir erhalten bleibe! Unter Beten und Fasten will ich es zu Deinem Gnadenbild tragen, und es Dir aufopfern mit Leib und Seele! O Maria . . .!" Tränen erstickten hier ihre Stimme und nur noch die Lippen bewegten sich im andächtigen Gebet. Draußen zog in diesem Augenblick die Prozession der Wallfahrer vorüber unter Gesang und Gebet; tröstend drang auch heute, wie vor zwei Jahren, der frommen Landleute herrlich Lied die Straße herauf ins stille Gemach und leise betete die Mutter die Strophe mit:
"O Maria! Steh uns bei,
Dass uns Gott barmherzig sei!"
Als wieder alles ruhig wurde, erhob sich gefasst und ergeben die schwer Geprüfte. Da lächelte Freude durch ihre Tränen, da malte sich frohes Staunen in ihren Zügen, als sie gewahrte, dass Reinhard an ihrer Seite gekniet und ihr frommes Gelübde im Herzen andächtig mitgesprochen. - Hatte er des Herrn Fingerzeig erkannt? - Ein kaum hörbares Seufzen rief sie in diesem Augenblick ans Bettchen des kleinen Dulders; da lag er mit offenem Auge und streckte seit lange zum ersten Mal wieder der Mutter beide Händchen unter Lächeln entgegen. - Wer malt der Eltern Freude? Wer ihr Entzücken?
Das Knäblein gesundete von dieser Zeit an und treulich erfüllten die Eltern ihr Versprechen. Assessor Reinhard aber schrieb hoch über seinen Arbeitstisch:
"Alle Hilfe kommt von Oben durch Marias Fürbitte!"
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William Bernard Ullathorne (1806-1889) - Erster Bischof von Birmingham
5. Maria auf dem Berg von La Salette
(Aus: Der heilige Berg von La Salette, eine Pilgerfahrt im Jahr 1854 von dem hochw. Bischof Ullathorne)
Hinauf nach La Salette!
Jenseits La Mure strecken die Alpen ihre riesigen Arme aus, um den Reisenden zu empfangen, und es bietet wohl kein Teil der Alpen Szenen von mehr ergreifender Schönheit dar, als die südliche Dauphiné Frankreichs. Hier beginnt die Landschaft im höchsten Grad erhaben zu werden und das Interesse steigert sich mit dem übrigen Weg. Die Straßen, obwohl hügelig, sind vortrefflich, und nun führt dieser Weg abwärts, indem er sich wie eine gewaltige Schlange in breiten Krümmungen mehrere Meilen lang um sich selbst wendet, bis er in ein sehr tief liegendes eirundes Tälchen von reicher Vegetation ausmündet, und dann führt er auf der anderen Seite mit ähnlichen Krümmungen zu größeren Höhen hinauf. Blicken wir zurück, so gleicht die Landschaft einer wunderbaren, in die Erde gesunkenen Halle mit gewaltiger Treppe und herrlichen Bäumen als Geländer. Ungeheure düstere Bergreihen erheben sich vor dem Auge des nahenden Wanderers, welche die Linie des Horizontes in allen Richtungen durchkreuzen, hier in phantastischen Formen, dort durch tausend Fuß hohe senkrechte Abhänge unterbrochen.
Endlich tritt der Berg Obiou selbst vor allen seinen Brüdern deutlich hervor, die Felsenmassen verengen sich treppenartig, wenn man hinansteigt, wie der babylonische Turm abgebildet wird, und der gewaltige Pfeiler lehnt sich auf eine Seite gleich dem Turm von Pisa, bis der schneebedeckte Gipfel über der See eine Höhe von 9225 Fuß erreicht hat. Er soll auf dem Mittelmeer in einer Entfernung von hundert Meilen sichtbar sein.
Endlich zeigt sich die Stadt Corps. Mit ihren 5800 Einwohnern liegt sie auf einer Plattform in einem Winkel des Gebirges, neben einer angebauten Fläche, in welche mehrere Täler ausmünden. Hinter ihr steigt eine Bergreihe von seltsamem Aussehen hervor, worunter der Berg Obiou besonders auffällt. Wir nähern uns der Stadt auf einem breiten Weg, der im Zickzack hinaufführt, ehe wir herabsteigen und den Fluss überschreiten können.
Der Weg von Corps hinauf nach dem heiligen Berg von La Salette beträgt ungefähr 7 Meilen (englische Meilen). Maultiere und Führer stehen für den Wanderer schon bereit.
Indem wir uns dem Tal zuwenden, das dem gegenüberliegt, durch das wir nach Corps gelangen, verfolgen wir, den turmhohen Obiou im Rücken, den Pfad zwischen den Bergen und dem Fluss ungefähr eine Meile weit, und kommen dann über eine Brücke, der schönen Kapelle Unserer Lieben Frau von Gournerie gegenüber. Wir steigen einen felsigen Maultierpfad hinauf, der dicht am Rand des Abgrundes hinführt. Unten rechter Hand, in einer Tiefe von etlichen hundert Fuß, war das raue Bett des Stromes, worin eine Menge Katarakte ihre Wasser ausschütteten. Die Luft ertönte von dieser Wassermusik. Auf beiden Seiten wuchsen Eichen, Föhren und Fichten in Menge und über diesen Bäumen zeigten die Berge jene Kalkformation, die in diesen Gegenden gewöhnlich ist, obgleich die Dämme im Strom zuweilen aus Granit sind. - Nachdem wir uns ein paar Meilen durch diese Landschaft hindurchgewunden hatten, gelangten wir auf ein angebautes Becken von beträchtlicher Ausdehnung. Zehn kleine Weiler liegen in unregelmäßigen Zwischenräumen auf der Oberfläche zerstreut, oder sitzen in den Winkeln am Fuß des Berges, jeder von einem Kranz von Fichten und Eschen eingefasst. In der Mitte steht die Pfarrkirche, und jede abgesonderte Häusergruppe hat ihre kleine Kapelle. Dieses grüne Becken wird auf allen Seiten von Bergen eingeschlossen, die sich schräg in einer beträchtlichen Höhe aufwärts ziehen. Die Kultur geht bis zu einem Viertel ihrer Höhe hinauf und wird von einem breiten Gürtel dunkelgrüner Fichten bekränzt, dann ist alles öde und unfruchtbar, hier und da mit Lagen von Schnee untermischt. - Indem wir an dieser kraterähnlichen Bodenbildung zur Linken die Hälfte des Weges hinziehen, kommen wir durch Ablandis, jenen Weiler, worin die zwei Kinder Peter Maximin Giraud und Melanie Matthieu, die mit der Erscheinung Marias auf dem heiligen Berg von La Salette begnadet wurden, in Diensten gestanden. - Wir erreichen endlich den letzten dieser Weiler La Salette, der am Fuß des Berges gleichen Namens liegt, auf dessen Gipfel wir ein Kreuz erblicken. Hier verlassen uns die letzten Bäume, einige kränklich aussehende Buchen und kleine Eichen, alt und knorrig und jetzt noch ohne Laub. Wir winden uns nun allmählig um die rechte Seite des Berges von La Salette herum, während die hohe Bergkette des Chamoux sich jenseits unseres Weges ausdehnt. Der Boden ist hier von blauem Schiefer mit sehr wenigen Kräutern, und der ganze steile Weg wird überall von Schluchten unterbrochen. - In diese steile Region, weit über den Wohnungen der Menschen, wo das Auge keinen Baum und keinen Vogel mehr erblickt, steigen wir hinan, bis wir den Berg von La Salette umgangen haben und uns 6000 Fuß über der Meeresfläche befinden. Noch einmal geht es auf einem geraden Pfad steil aufwärts und wir erreichen die Terrasse "Sous les Baisses". Der Gargas erhebt sich vor uns in einer Höhe von 1250 Fuß, im Süden ist der Berg von La Salette, der noch bedeutend ansteigt, während nördlich der Chamoux sich über den Gargas erhebt. Hier trifft ein wunderbarer Wechsel ein. Von der Terrasse bis zu dem Gipfel der Berge ist alles mit einem herrlichen Grün und mit einem Schmelz blauer Blumen bedeckt. Die Terrasse ist der Ort, wo die Erscheinung der glorreichen Himmelskönigin stattfand.
Die Glocken des Heiligtums läuteten eben zusammen. Die Patres Missionare, von Pilgerscharen umgeben, standen am Rand des Berges und riefen uns ein herzliches Willkommen zu. Ich eilte zu der Quelle, die sich von der Stätte aus ergoss, wo unsere sorgenvolle Mutter Maria stand mit dem Zeichen ihres gekreuzigten Sohnes an der Brust. - Ich begriff nun, was man zu Betlehem, zu Nazareth oder auf dem Kalvarienberg empfinden muss. Aber hier war die Zeit wie ausgelöscht, das Ereignis wie von gestern her, der Odem desselben wehte noch frisch um den Ort. Hierher, in diese Einsamkeit, kam eine Erscheinung vom Himmel und ein Wort, unter Tränen des Mitleids gesprochen, hallte wieder durch alle Völker und zeigte seine Macht durch vielfältige Früchte, und seine Apostel waren zwei arme, unbekannte Kinder!
Andachten auf La Salette
Vier glückliche Tage brachten wir auf diesem Berg zu, auf diesem Berg, geheiligt durch Maria, geheiligt durch das beständige Opfer des Altars, geheiligt durch die Ablässe des Heiligen Vaters, geheiligt durch die Frömmigkeit und Predigt seiner Missionare, durch unzählige Wallfahrten, durch zahllose Gebete und Bußübungen. - Das Heiligtum der Kirche ist vollendet, sie hat die Form einer Basilika im romanischen Stil. Auf einer Seite erhebt sich die Wohnung der Patres Missionare, auf der anderen die für die Schwestern, die den weiblichen Pilgern ihre Sorgfalt widmen. Diese Gebäude tragen denselben Charakter, wie die Kirche, und sind alle aus schwarzem Marmor gebaut, der aus dem Berg Gargas gewonnen wird. Alle übrigen Baumaterialien werden auf dem Rücken von Mauleseln den ganzen steilen Weg hinaufgebracht. Die Kosten des Baues sind sehr groß, und es fehlt bis jetzt noch an Fonds, um das Schiff der Kirche anzufangen, während das Hospiz mit seinen Nebengebäuden zur Aufnahme der Pilger erst als Plan auf dem Papier existiert. Indessen tun die Väter ihr Bestes, es den Personen, die aus großer Entfernung kommen, bequem zu machen, und ein provisorischer Bau aus Holz ist zur Aufnahme von Frauen errichtet. Diese zu bewirten und zu pflegen, ist die Sorge der Klosterfrauen. Sie leben fast buchstäblich im Bivouac und man sieht Frauen aus den verschiedensten Ländern und aus allen Ständen dicht zusammengedrängt, aber die Liebe und Menschenfreundlichkeit, die auf diesem heiligen Berg waltet, gibt für alles Ersatz.
Die Zeit der Wallfahrten hatte kaum begonnen, als wir ankamen hatte ein vorübergehender Sturm des vorigen Tages den Berg mit Schnee bedeckt; aber in der zweiten Woche des Juni waren schon 75 Herren an der Tafel der Väter und noch eine größere Anzahl von Frauen bei den Schwestern. Von Juni bis Ende September beträgt die Durchschnittszahl der Ankommenden 60 Personen täglich, während an Sonntagen diese Zahl noch durch 1000 bis 1200 Pilger aus den benachbarten Teilen des Landes erhöht wird. Die freundliche Aufmerksamkeit, die die Väter immer und allen Klassen von Personen gegenüber zeigen, ist einer der schönsten Züge dieser Marianischen Wallfahrt. Dieser Geist lebt selbst in den niedrigsten Dienern der Mission, und wenn man diesen insgeheim etwas aufdrängen wollte, so weigerten sie sich entschieden, irgendeine Erkenntlichkeit anzunehmen. "Es ist verboten!" sagen sie. Obschon zu allen Stunden Pilger ankamen, so wurde doch alsbald für ihre Bedürfnisse gesorgt, und nirgends zeigte sich eine Unordnung. "Verlangen Sie nur, was wir geben und für Sie tun können," bemerkte man einem meiner Reisegefährten; "Sie wissen ja, wenn Sie zu Unserer Mutter Gottes auf Besuch kommen, sind Sie wie daheim!"
Wir kamen ein wenig vor der Vesper an, und nachdem die Psalmen in der provisorischen Kapelle gesungen waren, zog die Prozession aus, zuerst die Frauen, dann die Männer und schließlich die Geistlichkeit. Sie sangen das "Magnifikat" und das "Salve Regina" und bildeten zwei Chöre neben der Quelle. Dann, von den Vätern aufgefordert, stellte ich, der Pilger aus England, mich neben die Quelle und gab in einer mir ungewohnten Sprache meinen Gefühlen einen Ausdruck und alle weinten ringsum. Hierauf kehrte man unter Absingung frommer Gesänge zum Segen mit dem Hochwürdigsten Gut zurück. Die Beichtstühle waren stark besucht und die Väter begannen eine Mission zu halten, worin sie über die wichtigsten sittlichen Wahrheiten mit Beredsamkeit und Nachdruck sprachen. - Am Sonntag früh morgens kamen 600 Pilger auf den Berg. Von diesen empfingen 350 die heilige Kommunion. Nach einer beträchtlichen Anzahl von heiligen Messen in der kleinen provisorischen Kapelle wurde die letzte unter freiem Himmel gelesen, an der Stätte der Auffahrt Unserer Lieben Frau. Marmorblöcke lagen da und dort herum und dienten als Sitze. Man sang kirchliche Lieder. Der Berg erschallt immer von religiösen Gesängen, außer im langen Winter. Dann wurde das ganze Verzeichnis der Gebete ausgegeben. Dieses Verzeichnis wird morgens und abends den Pilgern mitgeteilt, und die Einladung, "für die Bekehrung Englands zu beten," kommt sogar vor der Frankreichs. Überall in Frankreich betet man für England, besonders im Süden. Die Nonnen opfern wöchentlich eine heilige Kommunion für England auf, und auf den Kanzeln mancher Pfarrkirchen wird jede Woche eine Fürbitte für England eingelegt. - Es war seltsam und weckte mehr als einen ernsten Gedanken in mir, als der Pater Sibillat - England dem Gebet der Pilger empfahl, und als ich das Echo der Berge deutlich wiederholen hörte: "Priez pour la conversion de l`Angleterre! Betet für die Bekehrung Englands!" Dann folgte die Predigt.
In der Zwischenzeit der Feier der heiligen Messe und der Vesper sangen Gruppen von Pilgern geistliche Hymnen, andere die Lauretanische Litanei. Einige beteten an der Quelle oder tranken ihr Wasser, andere verrichteten den Kreuzweg, den Pfad entlang, den Unsere Liebe Frau bei ihrer Erscheinung ging. Alle schienen voll Frieden und Heiterkeit. Bei der Vesper zog die Prozession nach der "Gnadenquelle". Auf der einen Seite der Schlucht, in die sie sich ergießt, saßen die Frauen auf dem Hügel abgesondert ringsum das Banner der allerseligsten Jungfrau, und hinter dem Banner standen die Nonnen. Auf der anderen Seite waren die Männer aufgestellt. Es dehnte sich ein großer Raum vor beiden Scharen aus. Die Geistlichkeit stand zur rechten und zur linken Seite des Altars, und zwar am Rand der Schlucht neben der Stelle, wo nach ihrer Erscheinung die heilige Muttergottes sich wieder zum Himmel erhob. Wie ein Vers der Psalmen auf den andern folgte, antwortete ein Hügel dem andern, die Frauen den Männern. Dann hielt ein Domherr aus der Diözese von Meaux, der neben der Quelle stand, eine beredte Predigt, und in der Kapelle wurde dann der Segen gegeben. Hierauf begannen die Pilger, die nur einen Tag von ihren wöchentlichen Arbeiten erübrigen konnten, in die Täler wieder hinabzusteigen. "Ach!" rief neben mir ein ehrwürdiger Laie, ein Engländer, aus, "dass doch England so etwas kennen möchte!" und setzte hinzu: "der Protestantismus ist ein schrecklicher Unglaube!"
Ich habe von der großen Schönheit der Landschaft gesprochen, die das "Marianische Heiligtum" umrahmt. Alle Linien der Berge, die sich gegen diesen heiligen Ort herabsenken, scheinen selbst da noch, wo sie am steilsten sind, sanft und fließend, und mit grünem Rasen bedeckt. Da ist weder Busch noch Baum, aber die Oberfläche unendlich mannigfaltig. Blumen blühen im Überfluss, besonders von blauer Farbe, diesem Symbol von der Demut der Jungfrau von Nazareth. Wir finden hier die Frühlingsgentiane und die steillose Gentiane, das Bergveilchen, das Alpenvergissmeinnicht, die Kreuzblume, und unter diesen das Christröschen, die Alpensoldanella und eine kleine Schlüsselblume. Verschiedenartige Farnkräuter breiten sich aus, und weiter oben hinauf wird der Zwergwachholder hie und da angetroffen.
Von der Spitze des des Gargas, wo man in der Tiefe von 1300 Fuß auf das "Marianische Heiligtum" hinabschaut, wird die Schönheit dieser vom Himmel selbst für die Herabkunft der heiligen Muttergottes auserkorenen Stätte am besten gewürdigt. Ringsum ist ein ungeheurer, fast unbegrenzter Ausblick auf, wilde, unfruchtbare Bergketten, während auf dieser Erhöhung der Schauplatz der wunderbaren Erscheinung, in seine eigenen Berge wie ein Amphitheater eingeschlossen, einen gewaltigen grünen Teppich darstellt, mit Blumen untermischt und allein mit so reichem Grün ausgeschmückt. Auf der entgegengesetzten Seite des Gargas und Chamoux sind die Abgründe nackte Felswände, die in eine Tiefe von ein Paar tausend Fuß abfallen und jenseits liegen Bergketten wirr nach allen Richtungen übereinander gehäuft an der Grenze des Horizontes, so dunkel wie Bronze oder Eisen, und scheinbar ohne ein Laub oder Grashälmchen auf ihrer Oberfläche. Zwei oder drei enge Täler, in unermessliche Tiefen hinuntergesunken, sind der einzige Trost dieser so furchtbaren Wildnis. "Hier," sagt der Brigadier der Bezirksgendarmerie, der mit uns hinaufgestiegen war, und deutete auf die Seite des Heiligtums, "ist ein Gemälde des Paradieses; und dort," setzte er hinzu, indem er auf die andere Seite hinwies, "ist ein Bild der Hölle!2 Die breite, von Felsen unterbrochene Schlucht, die auf der anderen Seite nach Corps hinabführt, bietet einen anderen Kontrast dar. - "Was für einen feinen Geschmack Unsere Liebe Frau hat!" und "Wie gut hat Unsere Liebe Frau gewählt!" - Solche Ausrufe hört man oft, wenn der sinnige Pilger der Bewunderung Worte leit, die diese Stätte dem Gemüt einflößt.
Das "Heiligtum" selbst wurde nicht unmittelbar auf dem Platz errichtet, wo die Erscheinung sich zugetragen hat. Der Boden erwies sich als nicht geeignet dazu, und aus guten Gründen wurde er in seinem natürlichen Zustand gelassen. Aber es wird sich bald eine kleine Kapelle an der Stätte erheben, auf der Maria, zu ihrer Heimkehr in den Himmel, verschwand.
Die Erscheinung Marias
Der 19. September des Jahres 1846 fiel auf einen Samstag. Es war auch der Vorabend des "Festes Unserer Lieben Frau von den sieben Schmerzen".
Peter Maximin Giraud (P. M. Giraud wurde zu Corps am 27. August 1835 von armen Eltern geboren, und erhielt keinen Schulunterricht. Sein Vater ist ein Radmacher. Im September 1846 schickte er ihn, aus Gefälligkeit, zu seinem Freund Selme, einem kleinen Pächter in Ablandies, einem Weiler von La Salette, um die Kühe zu hüten.) und Franziska Melanie Matthieu (F. M. Matthieu ist zu Corps am 7. November 1831 geboren. Ihre Eltern gehörten zu den ärmsten Leuten, und schon im frühesten Alter musste sie ihr Brot durch Viehhüten verdienen. Sie kam selten zur Kirche, denn ihre Dienstherren behielten sie an Sonn- und Festtagen beim Geschäft, so wie an den Wochentagen.) kamen samt ihren Kühen miteinander vom Berg La Salette auf die Ebene oder Terrasse herab, die "Sous les Baisses" heißt. Der Tag war heiter, der Himmel wolkenlos, die Sonne schien glänzend. Es war ungefähr Mittag, denn sie hörten den fernen Schall der Angelus-Glocke. Sie nahmen ihre Mundvorräte und verzehrten sie neben einer kleinen Quelle, "Des hommes" genannt, rechts von dem kleinen Wildbach, der den Namen "Sezia" führt. Als sie ihr Mahl beendigt hatten, gingen sie herab, überschritten den Bach und legten ihre Päcke abgesondert neben dem Platz nieder, wo zuweilen noch eine andere Quelle floss, die aber damals ausgetrocknet war, obwohl sie bald für immer berühmt werden sollte. Sie gingen noch einige Schritte weiter abwärts und legten sich dann, gegen ihre sonstige Gewohnheit, wie sie später sagten, in kleiner Entfernung von einander nieder und fielen in Schlaf. Melanie erwachte zuerst; und da sie die Kühe nicht sah, weckte sie den Maximin. Sie gingen dann miteinander über den Bach und stiegen in gerader Richtung das gegenüber liegende Feld hinan, und als sie sich umwandten, sahen sie die Kühe auf einem sanften Abhang des Berges Gargas liegen. Sie wollten nun nach der ausgetrockneten Quelle zurückkehren, um ihre Päcke aufzuheben; aber kaum hatten sie sich umgewandt, als sie - ein helles, blendendes Licht erblickten.
Es folge nun hier die Erzählung der Kinder selbst, und zwar so genau, wie sie sie noch an dem nämlichen Abend ihrem Dienstherrn und am nächsten Morgen dem Pfarrherrn von La Salette mitgeteilt hatten; wie Melanie das Ereignis an dem nämlichen Tag dem Bürgermeister Peykard von La Salette berichtete, und wie sie es an den folgenden Tagen, Maximin den Bewohnern von Corps, Melanie den Einwohnern von La Salette, kund gaben, und wie sie seitdem immer allen Fragenden die Sache geschildert haben.
Die Erzählung der Melania lautet:
Wir fielen in Schlaf . . . . dann erwachte ich zuerst und sah meine Kühe nicht. Ich weckte Maximin. "Maximin", sagte ich, "schnell, lass uns gehen und nach den Kühen schauen!" Wir gingen über den kleinen Bach, der gerade vor uns herabfloss, und sahen die Kühe auf der anderen Seite liegen, sie waren nicht weit. Ich kam zuerst herab, und als ich fünf bis sechs Schritte von dem Bach war, sah ich eine Helle wie die Sonne, sie war viel glänzender, hatte aber nicht dieselbe Farbe, und ich sagte zu Maximin: "Komm schnell und schau das helle Licht dort unten!" Und Maximin kam herab und sagte: "Wo ist es?" Ich deutete nach ihm neben der kleinen Quelle und hielt still, als er es sah. Dann erblickten wir eine Frau im hellen Licht; sie saß da, den Kopf in den Händen. Wir waren erschrocken; ich ließ meinen Stock fallen. Da sagte Maximin: "Heb deinen Stock auf, wenn es uns etwas tut, will ich ihm einen tüchtigen Schlag geben!" Dann stand die Frau auf, legte die Arme kreuzweise über einander und sprach: "Kommt näher, meine Kinder! Seid nicht erschrocken! Ich bin hier, euch wichtige Neuigkeiten zu sagen!"
Dann gingen wir über den kleinen Bach und sie trat gegen den Platz vor, wo wir geschlafen hatten. Sie stand zwischen uns beiden. Sie sagte zu uns, und weinte die ganze Zeit, so lange sie sprach (ich sah ihre Tränen deutlich fallen):
"Wenn mein Volk sich nicht unterwerfen will, so bin ich gezwungen, die Hand meines Sohnes gehen zu lassen! Sie ist so stark, so schwer, dass ich sie nicht mehr halten kann! - Wie lange leide ich schon für euch! Wenn ich will, dass mein Sohn euch nicht verlasse, so muss ich ihn unaufhörlich bitten! Und ihr bekümmert euch nichts darum! - So sehr ihr auch beten, so viel ihr auch tun möget; ihr werdet nie die Mühe vergelten können, die ich für euch übernommen! - Ich habe euch sechs Tage zur Arbeit gegeben und mir den siebenten vorbehalten, und man will mir diesen nicht weihen; dies ist es, was die Hand meines Sohnes so schwer macht!
Diejenigen, welche die Karren führen, können nicht verwünschen, ohne den Namen meines Sohnes hineinzumischen!
Wenn die Ernte verdirbt, so geschieht es nur wegen euch! Ich hab es euch im vergangenen Jahr an den Kartoffeln merken lassen; ihr habt es nicht beachtet; im Gegenteil, wenn ihr verdorbene Kartoffeln fandet, so fluchtet ihr und nanntet den Namen meines Sohnes eitel! Es wird mit ihnen so fortgehen, so dass man in diesem Jahr um Weihnachten keine mehr haben wird!"
Da ich nicht recht verstand, was mit pommes de terre (Erdäpfel d.i. Kartoffeln) gemeint war, so wollte ich den Maximin fragen, was man darunter verstehe? Da sprach die Frau zu uns: "Ach, meine Kinder, ihr versteht mich nicht; ich will in einer anderen Weise mit euch reden!" Die Frau wiederholte dann dasselbe in dem Patois (Ausdrucksweise) der Gegend und fuhr dann fort:
"Wenn ihr Korn habt, so ist es nicht gut, es zu säen; alles, was ihr Säet, werden die Tiere fressen; was aufgeht, wird in Staub zerfallen, wenn ihr es drescht! - Es wird eine große Hungersnot kommen! - Ehe der Hunger kommt, werden die Kinder unter sieben Jahren von einem Zittern ergriffen werden und in den Händen derjenigen sterben, die sie halten; die anderen werden Buße tun durch den Hunger! - Die Wälschnüsse werden missraten, die Trauben verfaulen!
Wenn die Leute sich bekehren, dann werden die Steine und Felsen sich in Kornhaufen verwandeln und die Kartoffeln werden von selbst wachsen auf den Feldern! -
Könnt ihr auch eure Gebete gut hersagen, meine Kinder?"
"Wir beide antworteten: Nicht sehr gut, liebe Frau!"
"Ihr müsst sie morgens und abends andächtig hersagen; wenn ihr nicht mehr könnt, so sprecht wenigstens ein Vaterunser und ein Ave Maria; aber wenn ihr Zeit habt, so betet mehr! - Es geht niemand zur Messe, als einige alte Frauen; die übrigen arbeiten am Sonntag den ganzen Sommer und im Winter; wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen, gehen die jungen Leute zur Messe, um zu spotten! In der Fasten gehen sie zu den Fleischbänken wie die Hunde!
Hast du nie verdorbenes Korn gesehen, mein Kind?"
Maximin erwiderte: "O nein, liebe Frau!" - Ich wusste nicht, an wen von uns diese Frage gerichtet war, und erwiderte sehr artig: "Nein, liebe Frau! Ich habe nie ein solches gesehen."
"Du musst sicherlich solches gesehen haben, du mein Kind (mit diesen Worten wandte sie sich an Maximin), als du einmal mit deinem Vater in der Nähe des Maierhofes von Coin dich befandest. Der Herr des Feldes sagte zu deinem Vater, er solle seinen verdorbenen Weizen ansehen. Ihr seid beide miteinander gegangen. Ihr nahmt zwei oder drei der Ähren in eure Hände und habt sie zerrieben und sie zerfielen ganz in Staub, und dann kehrtet ihr nach Hause zurück. Als ihr noch eine halbe Stunde von Corps entfernt ward, gab dein Vater dir ein Stück Brot und sagte zu dir: Hier, mein Kind, iss wenigstens dieses Jahr noch Brot; ich weiß nicht, wer nächstes Jahr essen wird, wenn es mit dem Korn so weiter geht!"
Maximin erwiderte: "O ja, liebe Frau, ich erinnere mich jetzt; ich hatte es vergessen!"
Hierauf sagte die Frau zu uns auf Französisch: "Nun, meine Kinder, macht dies alles meinem ganzen Volk bekannt!"
Sie ging über den kleinen Bach, und wandte sich noch ein Mal zu uns und sprach: "Meine Kinder, macht dieses meinem ganzen Volk bekannt!"
Dann stieg sie den Ort hinan, wo wir hinan gegangen waren, um nach unseren Kühen zu sehen. Sie berührte das Gras nicht; sie bewegte sich über die Grasspitzen hin. - Ich und Maximin folgten ihr; ich ging ein wenig vor der Frau und Maximin ein wenig an der Seite - zwei oder drei Schritte. Dann erhob sich die schöne Frau ein wenig vom Boden (Melanie hielt ihre Hand eine Elle oder etwas weiter über den Boden in die Höhe, um es zu zeigen), dann schaute sie gen Himmel, dann auf die Erde herab. Nun sahen wir ihren Kopf nicht mehr, dann die Arme und Füße nicht mehr; wir erblickten gar nicht mehr als eine Helle in der Luft und nachher verschwand die Helle. Und ich sagte zu Maximin: "Vielleicht ist es eine große Heilige?" Und Maximin sagte zu mir: "Wenn wir gewusst hätten, dass es eine große Heilige ist, so würden wir sie gebeten haben, uns mit sich zu nehmen!" Und ich sprach zu ihm: "Ach, dass sie noch da wäre!" Dann streckte Maximin seine Hand aus, um ein wenig von der Helle zu haschen, aber es war nichts mehr da. Und wir schauten recht, um zu sehen, wohin sie gehe. Nachher schauten wir nach unseren Kühen."
Hier wurde Melanie gefragt: "Sagte sie dir sonst nichts?"
Melanie: "Nein, mein Herr!"
Frage: "Sagte sie dir nicht ein Geheimnis?"
Melanie: "Ja, mein Herr; aber sie hat uns verboten es zu sagen!"
Frage: "Über was sprach sie?"
Melanie: "Wenn ich Ihnen sage, über was sie sprach, dann werden Sie bald herausfinden, was es ist!"
Frage: "Wann sagte sie dir dein Geheimnis?"
Melanie: "Nachdem sie von den Wälschnüssen und den Trauben gesprochen hatte; aber bevor sie es mir mitteilte, schien es mir, dass sie mit Maximin sprach, und ich hörte nichts!"
Frage: "Teilte sie dir das Geheimnis in französischer Sprache mit?"
Melanie: "Sie sagte es mir im Patois!"
Frage: "Wie war sie gekleidet?"
Melanie: "Sie hatte weiße Schuhe mit Rosen von allen Farben darum, goldfarbige Strümpfe, eine goldfarbige Schürze, ein weißes Kleid, ganz mit Perlen bestreut, ein weißes Halstuch über den Schultern, mit Rosen ringsum, eine weiße, etwas vorwärts stehende Haube und eine Krone von Rosen um dieselbe. Sie trug eine sehr kleine Kette, woran ein Kreuz hing mit der Gestalt unseres Erlösers; rechts war eine Zange, links ein Hammer. An den Enden des Kreuzes fiel eine andere große Kette herab, gleich den Rosen um das Halstuch. Ihr Gesicht war weiß und länglich; ich konnte sie nicht lange ansehen, weil sie uns blendete."
Die Erzählung Maximins berichtet dasselbe, und der Schluss seiner Darstellung lautet: "Ehe sie verschwand, erhob sich diese schöne Frau ungefähr so weit (Maximin bezeichnet mit den Händen eine Erhebung ungefähr anderthalb Ellen); so blieb sie einen Augenblick in der Luft schwebend, dann sahen wir ihren Kopf nicht mehr, dann die Arme nicht mehr, dann nichts mehr von dem übrigen Leib; sie schien zu verfließen. Und dann blieb ein großes Licht zurück, das ich mit meinen Händen zu haschen versuchte, ebenso wie die Blumen, die sie an den Füßen hatte, aber es war nichts da.
Melanie sagte zu mir: "Es muss eine große Heilige sein!" Und ich sagte zu ihr: "Wenn wir gewusst hätten, dass es eine große Heilige ist, dann würden wir sie gebeten haben, uns mit sich zu nehmen."
Nachher empfanden wir eine große Freude und sprachen von allem, was wir gesehen hatten, und dann schauten wir nach unseren Kühen.
Nachts, als wir zu unseren Herren heimkamen, war ich ein wenig traurig; und da sie fragten: was mit mir sei? erzählte ich ihnen alles, was die Frau zu mir gesagt hatte."
Frage: "Verkünde mir, Maximin, wann die Frau dir dein Geheimnis mitteilte?"
Maximin: "Nachdem sie gesagt hatte: "Die Trauben werden verfaulen und die Wälschnüsse schlecht werden!" Dann sagte die Frau etwas auf französisch und sprach: "Du sollst dieses nicht sagen und auch dieses nicht!" Sie schwieg auch eine Weile still; es schien mir, als ob sie mit Melanie spräche"
Frage: "Wieviel Uhr war es, als du erwachtest und die Frau sahest?"
Maximin: "Es war ungefähr zwei oder drei Uhr."
Dies die Mitteilung Maximins.
Beide Kinder