3 Madonnen-Legenden - nicht nur für Kinder
Inhalt:
1. Müttermadonna
2. Musikantenmadonna
3. Traubenmadonna
________________________________________________________________________
Die gewaltigen Abstürze der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, der sogenannten Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der Technisierung des 19. Jahrhunderts und der Atheismen des 20. Jahrhunderts haben nicht vermocht, die Quelle, aus der das Volkstum schöpft, zum Versiegen zu bringen. Die den „Aberglauben“ des gläubigen Volkes zu jeder Zeit bekämpften und „Aufklärung“ als die Parole ausriefen flüchteten vielmehr selber restlos in die Mantik. Das gläubige Volk dagegen hielt der Überlieferung des Frommen die Treue. Die Geschichte der Frömmigkeit seit dem 16. Jahrhundert beweist, dass diese Treue zu den Brauchtumsüberlieferungen in ihm in dem Maß gestärkt wurde, je heftiger der Ansturm war, der sich gegen die Frömmigkeit richtete. Den Vorfahren war das alles wichtig und Kernstück ihres Volkstums und ihrer seelischen Kultur. Uns Nachgeborenen sind sie es nicht weniger. Auch und gerade die Legenden, Sagen, Geschichten und Mirakelerzählungen über Maria, unsere himmlische Mutter, sind uns in Fleisch und Blut übergegangen, und wir können uns, das Wesentliche genommen, davon nicht trennen, ohne uns religiös untreu zu werden.
Matthias Hergert
(Madonnen-Legenden von Hermann Moos, Verlag Deutsche Volksbücherei Goslar, 1947)
1. Müttermadonna
Was ich euch da erzählen möchte, liebe Kinder, das ist schon lange her, so lange, dass sich auch keiner von uns Alten mehr daran erinnern kann, selbst euer Großvater und eure Großmutter nicht, und die wissen doch vieles aus den früheren Zeiten. Aber was ich erzähle, das war noch früher, das war, als sie im Pfälzerwald noch Holz zu Kohle brannten und draußen an der Haardt ihren guten, alten, unverderbten Wein bauten und doch nichts wussten von Edelspitzen und Trockenbeerauslese und all diesen neumodischen Finessen, womit den Menschen nur das Maul verwöhnt und die Begehrlichkeit gezüchtet wird.
Damals – nun wisst ihr ja, wann es gewesen – damals lebte hoch droben im dichten, dunklen Pfälzerwald ein Köhler mit seiner Frau. Sie wohnten einsam und abgelegen und es waren vier gute Stunden bis ins Dorf drunten im Tal. Mit diesen Köhlersleuten hatte es ein Besonderes auf sich, vor allem mit der Frau, die immer so schweigsam und mit schwermütig-traurigen Augen durch den Wald huschte, dass man sich vor ihrem scheuen Wesen fürchten konnte, hätte man nicht eigentlich Mitleid mit der armen Frau haben müssen.
Doch, das gerade ist es, was ich erzählen wollte, und beinahe hätte mich der voreilige Eifer gleich zu weit geführt in dieser Geschichte, wo man nur Schritt um Schrittchen machen darf, damit es ja alle und auch jene, die den Köhler und seine Frau nicht kannten, doch recht verstehen mögen.
Ich sagte, es waren arme Köhlersleute, und Köhlersleute sind schon recht, recht arm. Aber diese waren noch um eines ärmer, als Köhlersleute ohnedies sind: sie hatten keine Kinder. So armselig waren sie.
Und so könnt ihr euch auch denken, warum die Augen der Frau so schwermütig-traurig waren; denn ihr Herz hing an einem Kind.
Nun muss ich mich schon wieder verbessern: dass sie überhaupt kein Kind gehabt hätten, ist nämlich auch wieder nicht ganz richtig.
Richtig ist es so damit:
Nachdem sie vierzehn Jahre vergeblich darauf gewartet hatte, war die Köhlersfrau eines Tages in die Hoffnung gekommen. Freudvoll hatte sie sich der süßen Erwartung hingegeben und war in ihrem großen Glück Tag für Tag zu der frommen Kapelle drüben auf den Berg gelaufen, um der Muttergottes dort zu danken. Die hielt mit geneigtem Haupt das herzige Kind auf ihrem Arm, eingehüllt in ihrem Mantel aber trug sie vierzehn Mütter, auf jeder Seite des Mantels sieben: eine rechte Gottesmutter also, bei der man sich geborgen fühlte. Wie mit tausend blitzenden Goldfäden fiel das Lächeln von den Augen der Muttergottes auf das Kind, streifte im Niederfallen die Köpfe der aus dem Mantel hervorlugenden vierzehn Mütter und traf gar noch mit einigen verlorenen Strählchen die krumme Mondsichel, auf deren scharfer Schneide die zarten Muttergottesfüße standen, während in der Höhe sich die goldenen Strahlen an dem blauen Baldachin brachen, der wie ein sternbesetzter Himmel das Muttergottesbild bedachte. Liebe, Güte, Wonne kam aus den Augen der lieben Frau, und man musste sie Lieb haben in der Mütterlichkeit, mit der sie das Kind in ihrem Arm hielt. Beschaute man das Bild indessen länger, dann konnte es einem ankommen, dass das verklärende Licht nicht aus den Augen der lieben Frau, sondern eben eigentlich von dem Kind in ihrem Arm ausstrahlte. Wie es auch – ihr werdet davon hören – in Wirklichkeit so bestellt war damit.
An diesem lieblichen Bild also ergötzte sich das späte, hoffende Mutterglück der Köhlersfrau täglich immer wieder aufs neue, bis ihr selbst der schwere Tag gekommen war.
Es war der bitterste ihres Lebens. Als sie daraus erwachte, hatte man das Kind bereits fortgetragen, denn es war tot geboren.
Und nun könnt ihr euch, liebe Kinder, auch denken, was die arme Frau so scheu und schweigsam machte, dass sich einer leicht vor ihr fürchten konnte, wenn er ihr im Wald begegnete und nicht wusste, dass man eigentlich Mitleid mit ihr haben musste.
Mit all seiner Liebe vermochte der freundliche Köhler nicht das Leid der Unglücklichen zu stillen. Die Frau, in ihre Schweigsamkeit wie in eine Festung eingeschlossen, ließ ihn nicht ein, ja, sie ließ ihn nicht einmal in ihre Gedanken schauen, und dort rumorte es in dunkel verworrenen Zügen und suchte sich Luft aus der Erstickung des Leids zu schaffen. Aber es waren Irrgänge des Herzens und nimmer wie vordem ein vertrauendes Wandeln, wenn die unglückliche Frau jetzt zu dem geschnitzten Muttergottesbild ging.
Auch die vierzehn unter dem blauen Mantel ach so seligen Mütter konnten sie nicht umstimmen und erst recht nicht das Glück, das darüber im schützenden Arm lag und von dem mütterlichen Gesicht beschienen war. Nein, das Glück der Muttergottes fraß an ihrem Herzen und es waren seltsame und bedrohliche Redensarten, die die verirrte Frau mit der lieben Frau da oben führte.
„Gib mir mein Kind!“ zeterte die Unglückselige Tag um Tag.
„Mein Kind sollst Du mir geben!“ rechtete sie.
Aber die Muttergottes blieb vor solch herrisch-forderndem Wesen taub und antwortete nicht, sie schenkte der Fordernden nicht einmal, auch nicht mit einem noch so winzigen Blick, ein einziges der tausend goldenen Strählchen, an dem sich das dunkle Gedankenwerk der Frau und ihr verstocktes Herz hätte erhellen lassen. Im Gegenteil, das Herz verfinsterte sich noch mehr und kam nun gar ins Drohen:
„Wenn Du mir mein Kind nicht gibst, dann nehm ich Dir das Deine!“
Das, ihr lieben Kinder, war gewiss die fürchterlichste Drohung, die einer Mutter ausgesprochen werden kann, und keiner dachte daran, auch die Muttergottes nicht, dass sie Wahrheit werden würde.
Doch eines Tages, vielmehr in einer dunklen Winternacht, geschah das Ungeheuerliche, dass die verblendete Köhlerfrau in die Kapelle drang, der Muttergottes das Kind entriss und mit dem Raub durch den Wald heimwärts eilte. Gewiss floh sie vor dem Entsetzen ihres eigenen Tuns, nicht minder aber floh sie vor dem sonderbar hellen Schein, der sie auf einmal umfloss und der keine andere Lichtquelle hatte als den Packen unter ihrem Arm. Denn, obschon sie das Kind in ein dickes Tuch gewickelt hatte, der Schein – und damit ist dies offenbar – der Schein, der von dem Kind ausging, ließ sich nicht in ein Tuch einsperren, sondern drang durch das Gewebe durch und durch.
Gewiss, das Fehlen des Kindes blieb nicht unentdeckt, das Leuchten, das die Kapelle sonst erhellte, fehlte. Das Lächeln in den Augen der Muttergottes war gestorben, die vierzehn Mütter ließen traurig die Köpfe hängen und der Mond war in der Dunkelheit versunken. Kein Sternchen blinkte an dem blauen Baldachin. Das alles konnte ja nicht unbemerkt bleiben, aber die Leute waren es dennoch zufrieden, denn der Schäfer hatte ihnen erzählt, wie er in der Nacht das Leuchten wandeln sah, von der Kapelle in den Wald hinauf:
„Das Christkind geht in den Himmel, jetzt wird bald Weihnachten sein.“
Ja, jetzt wird bald Weihnacht sein, nickten die frommen und gläubigen Menschen. Sie dachten, dass das Christkind zur rechten Zeit wieder an seine Stelle käme, und blieben ohne Sorge um das fehlende Kind, das nicht mehr bei seiner Mutter, aber auch nicht im Himmel, sondern in der armen Köhlerstube zutiefst unten auf dem Boden einer verschlossenen Truhe gefangen lag.
Aber, obschon die Frau viele Röcke und noch mehr Tücher über das Kind deckte, drang der Schein doch durch die Kleider und das Holz des Kastens durch und erhellte die Nacht in der Stube, dass der Köhler, der von dem heimlichen Unwesen seiner Frau nichts ahnte, am Morgen die Augen rieb und unausgeschlafen meinte:
„Es war so sonderbar hell in der Nacht.“
Die Frau aber erwiderte:
„Du wirst geträumt haben.“
„So wird es gewesen sein“, nickte der Mann ohne Verdacht und Hintergedanken und ging seiner Arbeit nach.
Die Frau aber, die der helle Schein selbst nicht hatte schlafen lassen, auch dann nicht, als sie die Decke über den Kopf zog, lag immerzu wach auf ihrem Bett und hatte in den drei Nächten vor dem Weihnachtstag drei seltsame Begegnungen, die eben der helle Schein durch das Fenster der Köhlerstube an sich gezogen hatte und von denen ich euch nun nacheinander berichten will.
In der ersten Nacht klopfte es an Fenster. Als die Frau nach dem Klopfen sah, entdeckte sie hinter den verschneiten Scheiben das breite, runde Gesicht des Mondes, daneben das Strahlenhaupt der Sonne und zwischen ihnen und um sie herum viele kleine und große Sterne, so viele, als auf der Milchstraße stehen. Dieses Bild vor dem Fenster aber war nicht etwa freundlich wie sonst, sondern erbärmlich und bejammernswert anzusehen. Und das kam von der eisigen Kälte, die gerade in diesem Jahr die Welt besonders grausam überfallen hatte. Es war mit Eis und Schnee ein so harter Winter, wie sich seiner die ältesten Leute nicht erinnern konnten, die allerältesten nicht, die leider auch nicht viel klüger waren als die anderen, sonst hätten sie wissen müssen, dass diese Kälte von dem Raub des Christkinds kam.
Der Mond schien in dem schrecklichen Frost grün angelaufen, als wäre er von Grünspan überzogen. Der Sonne waren die Backen eingefallen, die Haut fiel in schlaffen Falten von dem Kinn herab und die einst stolzen goldenen Strahlen hingen ihr wie bleiche, welke Blätter um das Haupt. Unter den Sternen aber war in der Kälte ein Knistern und Knirschen wie von silbernen Zähneklappern.
Und jetzt lagen sie am Fenster und drückten sich die Gesichter platt, damit sie ja recht nahe an den wärmenden Schein herankamen, der von dem in der Truhe verborgenen Kind ausging.
„Gib das Kind zurück!“ stöhnte der Mond so schmerzlich, dass von dem kalten Hauch die Scheiben mit vielverästelten Eisblumen anliefen.
Darauf öffnete auch die Sonne den Mund.
„Gib das Kind zurück!“ schnatterte sie vor Kälte; dabei prasselten mit jedem Wort kleine Eisperlen, wie gefrorene Tränen groß, aus ihrem Mund an das Fenster.
„Wenn du das Kind nicht zurückgibst, müssen wir alle an der Kälte zugrunde gehen, auch ich“ –
Jammerte der Mond.
„– und ich“, mischte sich die Sonne ein.
„– und du“, sprachen sie beide.
Erwartungsvoll sahen sie nach der Frau.
Die Frau blieb stumm.
„Es wird keine Sonne mehr sein“, drohte der Mond und seufzte, dass die Eisblumenadern an den Scheiben zu dicken Ästen anschwollen.
„– und kein Frühling“, sagte die Sonne und prasselte gleich eine dichte Wolke von Eistränen gegen die Scheiben.
„Kein Vogel wird sein“, jammerte der Mond.
„– und keine Blume!“ jammerte die Sonne.
„Nur Eis . . . nur Eis . . . nur Eis . . .!“ jammerten beide zusammen.
Zu diesem Zwiegesang zwischen Sonne und Mond stießen die Sterne klirrend im Chor aneinander und es gab einen wehen, herzzerreißenden Klang in der Winternacht.
Aber das Jammern und Quälen und Klagen blieb ohne Widerklang in dem verhärteten Herzen der Frau. Unbewegt schaute sie hinaus und sah, wie sich der Schnee auf die Gesichter der Bittgesellschaft vor dem Fenster setzte, dass man bald nichts mehr von dem grünen Mond und den welken Sonnenstrahlenblättern und den Sternen sah als nur das weiße Schneepolster, unter dem das Fenster nach und nach zuwuchs.
Wieder rieb der Köhler am Morgen darauf die verschlafenen Augen.
„Mir ist“, sagte er diesmal, „mir ist, ich hätt heut Nacht Gesang gehört, der war so traurig.“
Worauf die Frau verwundert tat und meinte: „Ei Mann, was hast du doch für Träume!“
In der folgenden Nacht klopfte es wieder ans Stubenfenster. Draußen, im Schneegestöber, stand –, nun, was denkt ihr, wer dort wohl stand? Es war kein Geringerer als St. Nikolaus und der Esel. Das Christkind fehlte; natürlich fehlte es, es lag ja noch immer in der Köhlerstube, in dicke Tücher eingewickelt, zuunterst in der Truhe.
Ach, wie unglücklich war der gute, gemütliche St. Nikolaus anzusehen! Die sonst so munteren Äuglein blickten traurig durch das Fenster nach dem Kasten in der Ecke. Das rosige Gesicht war von der Kälte ganz blau und lila angelaufen. Und erst der Bart, wie sah der Bart erst aus! O je, der schöne Bart war zu einem dichten Gewebe zusammengeschmolzen und fiel wie ein Gletscher über den Bauch des guten Alten herab. In Eiszapfen hing ihm das Haar vom Kopf, dass es immer läutete, wenn er den Kopf bewegte, und selbst die lustigen Haarbüschel in den Ohren starrten unfreundlich als spitze, eisige Nadeln hervor.
„Brrr . . .“ knurrte St. Nikolaus, schüttelte den Schnee ab, dass es unter den Eiszapfen wie mit allen Glocken läutete, und polterte gegen die Frau: „Gib das Kind zurück!“
„I – a, gib das Kind zurück!“ echote der Esel und schlug dem Nikolaus mit seinem Schwanz den Buckel frei vom Schnee.
Aber mit dem Poltern war nichts auszurichten. Ein Menschenkenner wie St. Nikolaus sah das auch ein und verlegte sich darum auf Güte.
„Sieh“, sagte er und stellte der verstockten Frau seine große Not als Glücksbringer dar, „sieh, wer kommt nun zu den Kindern ins Haus?“
„I – a, wer stellt das Eselchen auf den Mist . . .“
„Sieh“, unterbrach der Alte eifernd das Tier und drängte es zur Seite, „wer leert das goldene Säckelchen aus?“
„. . . i – a, dass es Heu und Hafer frisst?“ hinkte das verhinderte Eselchen hinterher.
Mit großen aufgerissenen Augen starrten beide in die Stube nach der Frau und meinten Wunder, was ihre Vorstellungen erwirken würden. Aber da haben sie sich an der Härte dieses Herzens versehen. Dies Herz blieb fest und unerweicht.
„Willst du denn nicht, dass die Kinder Weihnacht haben sollen?“ knurrte St. Nikolaus grollend, dass sich das Eselchen ängstlich zusammenkrümmte und auf das Wedeln mit dem Schwanz vergaß.
Die Frau blieb stumm.
Da wurde St. Nikolaus so böse, dass er ganz auf seine Heiligkeit vergaß und heftig mit dem Fuß aufstampfte.
„Dann soll dich doch gleich der –“
Was St. Nikolaus jetzt sagen wollte, soll kein Menschenkind und auch St. Nikolaus nicht, nicht einmal im gerechten Zorn in den Mund nehmen. Er hatte denn auch das Wort noch nicht ausgesprochen, als er mitsamt dem unschuldigen Eselchen blitzschnell in die Tiefe sank. Als der Gute mit dem Bein aufstampfte, hatte er nämlich nicht daran gedacht, dass er keinen festen Boden, sondern nur weichen Schnee unter den Füßen hatte.
Die Erde hatte St. Nikolaus und sein Eselchen aufgeschluckt. Wie ein Leichentuch hielt der Schnee seine weiße Decke über die beiden Unglücklichen gezogen.
Am anderen Morgen saß der Köhler auf dem Bettrand und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Ich weiß nicht, ich hab heut Nacht schweren Männergang gehört und Hufgeklapper.“
Da sagte die Frau verächtlich:
„Lass mich endlich mit deinen einfältigen Träumen.“ Und doch wartete sie selbst – halb neugierig, halb belustigt – wer sie nach Sonne, Mond und Stern und Esel und St. Nikolaus nun in dieser Nacht heimsuchen würde. Denn es war eine besondere Nacht, die Nacht vor dem Weihnachtstag. Da war gewiss auch besonderer Besuch zu erwarten. Aber wenn selbst der liebe Gott zu ihr käme oder auch der Teufel, lästerte die Frau in dunklen Gedanken, sie würde das Kind nicht hergeben. Nie und nimmer! Es sei denn, ihr würde das eigene Kind zurückgegeben. So hart war das Herz der Köhlersfrau.
Wie aber erschrak sie tief im Innersten, als sie zu der gewohnten Stunde zum Fenster blickte und dort zwar nicht den lieben Gott und auch nicht den Teufel, sondern etwas ganz anderes, etwas ganz Unerwartetes gewahrte: geführt und geleuchtet von dem großen Morgenstern stieg draußen am Waldrand die Muttergottes im Schnee mühsam den Berg hinan, im blauen Mantel die Last der vierzehn Mütter, im Herzen unsichtbar die größere Last der eigenen Not.
So weit also hatte es kommen müssen.
Dies sah die Frau hinter dem Fenster und erschrak. Das Erschrecken aber war die erste Regung des vergessenen Herzens.
Eine Mutter sucht ihr verlorenes Kind.
Das war es, was die Köhlersfrau so erbarmte.
Und jetzt trat die Muttergottes unter das Fenster und stand mit den zarten Füßen im tiefen Schnee und, obschon sie vorerst kein Wort sprach, war ihr Mund dennoch beredter als das laute Klagen und Jammern in den Nächten zuvor. Er redete vom Schmerz der Mutter, der auch ihr eigener Schmerz, ihr, der Köhlersfrau, bitterster Schmerz des Lebens war.
Und in die Bestürzung dieser Erkenntnis fiel der Chor der vierzehn Mütter, einmal die sieben der rechten, ein andermal sie sieben der linken Mantelhälfte und dann wieder alle zusammen.
„Siehe“, sagten die von rechts, „sie klagt nicht, und doch hast Du ihr das Kind genommen.“
„Ach, was soll ich klagen?“ seufzte die Muttergottes mit so lieblicher Stimme, dass Eis und Schnee daran zerschmolzen. „Ich habe es tausend und abertausend Mal hingegeben.“
„Siehe“, sagten die sieben von links, „sie redet nicht einmal von der Not des eigenen Herzens.“
„Ach, was soll ich jammern?“ seufzte die Muttergottes. „Mich jammert die Not der Mütter in der ganzen Welt.“
„Siehe“, sagte jetzt der ganze Chor, „jede von uns Vierzehn hat einst ihr die Last des Mutterschmerzes aufgeladen und sie hat diese Last auf sich genommen und für uns getragen. Und wir waren geborgen unter dem Mantel des Trostes.“
„Sie kommt nicht um ihrer selbst willen“, sagten die von rechts.
„. . . und bittet nicht, gib mir das Kind, mein Kind zurück!“ sagten die von links.
„Nein, nicht um meinetwillen“, sprach die Muttergottes und jedes ihrer Worte war Gesang von bitterer Süße, „ich komme zu Dir um dieser Vierzehn und um aller Mütter willen und bitte für sie: gib das Kind! Nicht mir allein, nein, den Müttern, allen Müttern zum Trost und auch Dir gehört das Kind; ich durfte es nur für euch halten.“ Da erkannte die Köhlersfrau, dass ihre Not keine besondere Not, sondern die Not aller Mütter war, und wurde plötzlich von tiefem Mitleid angegriffen und ihr wurde so schmerzlich im Sinn, dass sie in diesem Augenblick bereit gewesen wäre, ihr eigenes Kind hinzugeben. Und lief zur Truhe und nahm das geraubte Kind aus dem Bündel und legte es der lieben Frau in den Arm.
Über dem Gesicht der Muttergottes ging ein Leuchten auf, als fielen tausend blitzende Goldfäden von ihren Augen auf das Kind. Und unter dem streifenden Glanz der Goldfäden richteten sich die Köpfe der vierzehn Mütter wieder auf wie welke Blumen im Sonnenstrahl. Ein Strählchen von den tausend Fäden aber fiel in das Herz der Köhlersfrau und traf sie dort wie ein feiner, dünner Stich, dass sie mit der Hand nach der Brust fuhr und ins Bett zurücksank.
Darüber war der Köhlersmann an ihrer Seite wach geworden.
„Ist jemand bei Dir, dass Du so hell im Zimmer hast?“ fragte er ganz täppisch und benommen.
Da lächelte die Frau im Dunkeln und hielt die Hand noch immer über ihrem Herzen.
Wo der Stich gewesen, spürte sie jetzt ein anderes, spürte sie, wie sich neues Leben regte.
„Ja“, antwortete sie ganz glücklich, „es ist jemand bei mir, Mann. Komm, Deine Hand. Spürst Du es, spürst Du das Kind?“
Da holte der Mann tief Atem und lauschte.
„Und morgen ist Weihnacht!“ sagte er.
Beide waren selig wie Kinder, denen das Christkind das Schönste beschert hat, was sie sich nur wünschen können.
„Wenn`s ein Mädel ist“, lachte die Frau, „dann soll es Ursel heißen.“
„Und wenn`s ein Bub ist, Peter“, bestimmte der Mann.
Und es wurde ein lustiger Streit.
Als aber der Frühling kam, und er kam mit Blumen und Vögeln, da stand in der Köhlerstube eine Doppelwiege und darin lagen gleich zwei Glücksbringer: die Ursel und der Peter!
Und die Sonne leuchtete ihnen am Tag und der Mond stand blankgeputzt in der Nacht, die Sterne aber wachten über ihrem Schlaf, damit ihnen nichts Böses träumte.
Und als es wieder Weihnacht war, kam St. Nikolaus mit gewichtigen Schritten und brachte den Kindern so viele Geschenke, als das goldene Säckelchen nur fassen und das Eselchen – ja, das stand auf dem Mist – das gute, liebe Eselchen über seinem Rücken tragen konnte.
2. Musikantenmadonna
Zu jener Zeit, da die deutschen Könige, damals noch ohne Residenz, mit dem glitzernden Kometenschweif ihres Gefolges von Königspfalz zu Königspfalz reisten, um dort mit der ganzen Fülle und Pracht ihres hohen Königtums Hof und Gericht zu halten, in jener Zeit stand auch in Lautern, mitten im Herz der Pfalz, ein solcher Palast, wie er von Ingelheim und Aachen berichtet wird, nur noch schöner, noch reicher als dort. Dieses Schloss war so schön und so reich, dass sich der Ruf seiner Schönheit und seines Reichtums damals in aller Welt herumgesprochen und – obschon kein Stein mehr auf dem andern ruht – bei uns bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Es war von den berufensten Künstlern und den geschicktesten Bauleuten jener Zeit aus rotem Stein erbaut und mit Marmor und Sammet verschwenderisch ausgeschmückt, auch mit einem großen Woog und einem weitläufigen Tiergarten eingerichtet worden. Dort konnte der König nach Lust und Liebe fischen und jagen. Es gab Wild und Fische aller Arten. Viel Sagen und Reden geht davon im Volke um. Auch der berühmte zweihundertsiebenundsechzigjährige Hecht, der dem Kurfürsten von der Pfalz im Heidelberger Schloss zur Tafel aufgetragen wurde – es ist der Hecht mit dem goldenen Kaiserring – auch der stammt aus dem Woog von Lautern. Und es ist nicht von ungefähr, dass Lautern einen Fisch im Wappen hat.
Dieses Stück Land mit Schloss und Wald und Woog liebten die Könige so sehr, dass sie es wie einen besonderen Edelstein aus dem Ring des großen deutschen Reiches heraus und für sich allein in Beschlag nahmen, dass kein anderer der Oberen des Reichs dort etwas zu sagen oder zu richten hatte. Davon hieß dieses Land dann auch Königsland, die Leute, die dort wohnten, die Königsleute und der Wald, in dem die Könige jagten, der Königs- oder – noch heute so geheißen – der Reichswald.
Schon damals war Lautern eine berühmte Stadt und von vielen Fremden, Kaufleuten und insbesondere Handelsherren, aufgesucht. Auch mancher Adlige hatte hier seinen Sitz und Hof. Natürlich zog in den Zeiten, da der König Hof hielt, der magische Glanz seines Gestirns erst recht alle anderen Sterne an, die großen und kleinen, die nahen und fernen, so dass sie – vom Osten und Westen, vom Süden und Norden der Pfalz herbeieilend – die Mauern der Stadt mit ritterlichem Wesen und Treiben erfüllten und so deren Ruf und Ruhm noch mehr erhöhten.
Allein nicht nur die Großen, die Ritter und Vornehmen, auch die Leute des flachen Landes strömten in hellen Haufen hinzu, auch sie nicht mit leeren Händen. Nur war ihr Beitrag anderer, weniger höfisch-ritterlicher, doch nicht weniger willkommener Art. Sie füllten mit ihren Gaben des Königs Küche und Keller, seine Speicher, Ställe und Scheunen. Niemals und an nichts mangelte es dem König: Korn und Wein, Obst und Früchte, Fische und Geflügel, Kälber und Ochsen, alles war in Hülle und Fülle vorhanden; denn die Pfalz, das königlichste unter des Königs Ländern, war seit je ein reiches und fruchtbares Land.
Sie alle nun, die Oberen und Unteren, kamen, den König zu sehen und ein Strählchen seines Glanzes zu erhaschen, an dem sie sich weiden und stärken konnten, der eine, indem er sich aus der königlichen Fülle einen neuen Wunsch gewähren ließ, ein anderer, um der Last eines bedrückten Herzens ledig zu werden, weil er zu einem verletzten Recht vielleicht ein Urteil brauchte. Und der König lieh ihnen allen sein Ohr und seinen Mund und sprach Recht oder gab Gnade, je nachdem es viel. Und jeglicher war voll Glücks, denn damals war noch der König für alle da, für die Oberen und für die Unteren, für die Reichen und für die Armen.
(Auch Arme gab es – das kann nicht verschwiegen werden, und setzte man dieses Geständnis verschämt zwischen hüllende Klammern –, Arme gab es auch in der reichen Pfalz. Das waren die im Westrich, wo die Erde, als hätte sie ihrer selbst vergessen, nichts als Steine und Disteln wachsen ließ. Nun waren die Leute dort doch auch Königsleute und dem Herzen des Königs nahe; drum machte es den König immer traurig, dass er bei aller Machtfülle, die ihm verliehen war, die Steine nicht in Gold und die Disteln nicht in Korn verwandeln konnte. Damit wäre ihnen allen, den Leuten und dem König, wohl geholfen gewesen).
Die Könige weilten – das ist begreiflich – besonders oft und lange in ihrem pfälzischen Königsland und mit Vorzug gerade dann, wenn sie der vielen Händel draußen in der Welt müde und mürrisch waren und sich von dem Sorgen und Regieren erholen wollten. Wo auch sollten sie den Lärm und Tumult, das Gezeter und Geschrei leichter vergessen als hier zwischen Woog und Wald, unter einem heiteren Himmel und bei fröhlichen Menschen, wie es die Pfälzer nun einmal sind?
Am Woog, über der wippenden Angel oder beim lustigen Jagen durch den grünen Wald, da verloren sich die düsteren Gedankenfährten. Und wenn das Fischen am Woog und das Jagen im Wald nicht davon helfen wollten, dann war es am Abend im strahlenden Palast der Umgang mit schönen Frauen, der das schwarze Flatterzeug verscheuchte, oder – wenn es gar nottat – auch einmal ein kräftiger Trunk unter Männern. Irgendetwas, irgendeine Arznei wie Lust, List, Liebe, Lachen, irgendwann zur rechten Stunde genossen, - das half. Solcher Heiltrank aber fand sich nur in der Pfalz, in ihrem Herzen, wo die Könige wie aus einem Lebensborn dann auch immer wieder neue Kraft und neuen Mut zu ihren Weltfahrten gewannen.
Immer wieder.
Doch nein, nicht immer.
Einmal weiß ich – und davon ist hier ja zu erzählen -, dass weder Woog noch Wald, weder Frauenlachen noch Männertrunk die Trübsal verjagen und das kranke Herz des Königs froh machen konnten, damals, als der König, ein Geschlagener des Lebens, vom Schauplatz der Welt in sein pfälzisches Sorgenfrei heimgekehrt war, wortlos, kraftlos, siech. Wie immer waren die Königsleute herbeigeeilt, sich an dem Strahlenglanz des Königs zu stärken und aufzurichten. Doch erschrocken wichen sie zurück vor dem Schattenbild, das da starr und leblos in dem goldenen Sessel saß. Das war der König nicht! Die Wangen eingefallen, die Lippen dünn und leer, die Stirn von krausen Falten aufgerissen, das Haar welk und bleich, die Augen matt und verhangen, der Mund stumm verschlossen -: das war ein Anblick des Jammers und Grauens.
Und alle, die gekommen waren, wurden darüber von so unsäglicher Traurigkeit erfasst, dass es wie ein Schatten bleischwerer Wolken über dem Land hing. Ja, das Land selbst und alle Lebewesen litten. Im Wald trauerten die Tiere und verschmähten Halm und Wasser, die Vögel in den Ästen verstummten, die Fische im Woog hielten still und lagen mit klagend-glotzenden Augen am Uferrand. An den Bäumen erschlafften die Blätter und die Blumen ließen unfroh die Köpfe hängen. Selbst Sonne und Mond schienen an Kraft verloren zu haben, die Tage waren fahl, die Nächte blass und ohne Sterne.
Es war ein großes Raten und Raunen im Land, was des Königs Herz denn so sehr bedrücke. Die einen fragten sich, ob dem Reich eine Hungersnot bevorstünde, die anderen fürchteten, dass vielleicht ein feindlicher Überfall, Krieg und Verheerung drohe. Dann wieder kam einer darauf, ein böser Zauber habe den armen König überfallen; den sollte man mit Sator und Rotas austreiben und am Galgenberg verbrennen.
An solch wunderlichen und noch kühneren Vorschlägen fehlte es nicht. Immer wieder wurde ein neuer Plan ausgebrütet. Aber alle noch so gut gemeinten Pläne konnten dem Übel nicht abhelfen. Das Herz des Königs, von dem bisher alle Fröhlichkeit in der Welt gekommen war, dies Herz blieb krank und matt.
Nun lebten in der Königspfalz unter dem anderen Gefolge auch sieben junge Schüler. Sie stammten aus allen sieben Ecken der Pfalz und jeder der sieben – wie das mal in der Pfalz so ist – tat sich ein Besonderes gerade auf seine Ecke, bis auf den siebten unter ihnen. Mit diesem hatte es seine eigene Bewandtnis, allein -, davon wird noch die Rede sein müssen.
Auch diese sieben jungen Schüler wollten, jeder nach Vermögen und Art, den König aus seiner Not befreien helfen. Und wie sie sich darauf besannen, womit sie dem herzwunden König eine besondere Freude bereiten könnten; - denn nur durch eine Freude, so dachte man, war der starre Reif um das Königsherz zu sprengen -, da fielen sie darauf, dass ein jeder das Köstlichste und Schönste, was seine Heimat zu geben hat, dem König bringen sollte. Vielleicht, dass sein Auge daran Gefallen finden und sich sein Herz darüber entzünden könnte. Was sie aber nicht laut sagten, sondern nur heimlich bedachten, das war: dass jeder von ihnen hoffte, gerade mit seinem Geschenk alle anderen zu übertreffen und damit vor dem König und dem ganzen Hof hervorzustechen.
Voll freudiger Erwartung schieden die jungen Schüler voneinander und beeilten sich auf dem kürzesten Weg heimzureisen, der eine an die Haardt, ein anderer in die Sommerpfalz (wo das ist, wird noch berichtet werden), wieder einer an den Rhein, ein vierter in den Süden, der fünfte nordwärts an den Donnersberg, der sechste in den Pfälzer Wald.
Allein der siebte Knabe reiste nicht. Der blieb, blieb auch ohne Hoffnung und voll geheimer Angst. Denn was sollte er, gerade er mit seiner Reise ausrichten? Er kam aus dem Land der Steine und Disteln und war überdies ein Waisenkind.
So blieb er in seiner Rat- und Hilflosigkeit zurück. Langsam, zermürbend langsam schlichen für ihn die einsamen Tage vorüber, bis endlich, vom ganzen Hof sehnsüchtig erwartet, seine sechs Gesellen, täglich ein anderer, wieder eintrafen. Jeder Tag einer solchen Rückkehr steigerte seine Not aufs Neue. Denn jeder Tag zeigte ihm eine andere, noch prächtigere Gabe dieses wunderlichen Landes, das neben soviel üppige Fülle einen leeren Zipfel gesetzt hatte.
Als erster – er hatte den kürzesten Weg – kam der Knabe aus dem nördlichen Land um den Donnersberg zurück. Man führte ihn ohne Aufenthalt vor den König, wo er die Gabe seiner Heimat, ein Büschel Ähren, am Fuß des Thrones niederlegte. Was er dazu sagte, war voll Hingabe an den König. Doch einem hellhörigen Ohr entging der leise, fast eitle Stolz, der das Mitleid mit dem armen König übertönte, nicht.
„Herr König“, sagte der Knabe, „sieh, dies Land, wo solches Gold aus dem Boden wächst, gehört Dir. Wer kann die goldenen Körner zählen? Tausend sind es auf einer Hand und abertausend Hände bergen es und tragen Dir`s zu. Wie reich Du doch bist, Herr König! Lass Dich daran ergötzen!“
Alle blickten nach dem König, gespannt, was nun geschehen, hoffend, dass sich etwas Beglückendes vollziehen würde. Denn die Sorge einer Hungersnot brauchte ja nun das Herz des Königs nicht zu bedrücken. Aber in dem erstarrten Gesicht des Königs regte sich keine Falte, die Augen blickten leer und verloren über den Knaben und sein Geschenk hinweg, unbewegt saß der König im goldenen Stuhl. Davon senkte sich neue Trauer über die Menschen und verdüsterte von neuem ihren Sinn.
Dem Knaben aus dem Westrich aber fiel es besonders schwer aufs Herz, wenn er bedachte, was Steine und Disteln ausrichten sollten, wo solche Gottesgabe unbeachtet blieb.
Und er trug sein Leid hinunter in die Kapelle und trat dort zu dem geschnitzten Bild der Muttergottes und unter ihr Lächeln, das in diesen trüben Zeiten das einzige Lächeln war im ganzen Land, so als wäre das Lächeln der Welt ihr, der Muttergottes, allein in allerletzte Hut gegeben, um es über diese düstere Gegenwart hinüberzuretten in zukünftige heitere Tage. Und da er ein Waisenknabe war, dem das Leben selten gelächelt hatte, besaß dieses rätselhafte Lächeln die Kraft, ihn und sein mitleidvolles Hoffen um den König doch noch zu erwärmen und den Glauben auf den kommenden Tag zu setzen.
Am Montag war dies geschehen.
Tags drauf, am Dienstag, kehrte der Knabe aus der Südpfalz wieder. Er brachte einen schwarzen, glitzernden Klumpen, der war so schwer, dass es ihm fast die Schulter abdrückte.
„Sieh, Herr König“, sprach er, noch stolzer als der erste, „im Boden meiner Heimat wächst ein Erz ganz anderer Art. Es lacht im wogenden Leuchten zwischen Himmel und Erde und gibt sich auch nicht so leicht gewonnen wie die goldenen Körner. Dunkeläugig blitzt es heimlich aus den Spalten der Felsen und will ihren Fesseln nur mühsam entrissen werden. Es gibt sich nicht leicht hin, seine Art ist spröde. Aber im Feuer glüht es lustvoll auf und dann -, in den Eisenschmelzen und unter dem Eisenhammer, dann wird das Köstlichste daraus, was einen Mann ziert: das Schwert. Kühn macht das Schwert den Mann und stark! Wie stark aber bist Du erst, Herr König, dem aale Schwerter und alle Schwertarme gehören!“
Solche Rede konnte ein mattes Herz schon aufreißen.
Aller Furcht vor feindlichem Überfall ledig, blickten die Leute nach dem König.
Aber auch dieser Pfeil, auf das Mannesherz des Königs gerichtet, prallte kraftlos ab an der harten Schale, die das Leid darumgelegt.
Hilflos, mit doppeltem Leid beschwert, kehrte der Knabe aus dem Westrich abermals bei der lächelnden Muttergottes ein. Dieses Lächeln passte schlecht in die Zeit, noch weniger vertrug es sich mit der zehrenden Ohnmacht des Knaben. Was aber im Schein dieses Lächelns immer leuchtender und reiner wie ein Faden, der aus seinem Herzen hinüber zu dem König wuchs, glänzte und glühte, das war das Mitleid.
Als dritter, das war am Mittwoch, kehrte der Knabe aus dem Pfälzerwald zurück. In der Hand trug er einen Zweig Eichenlaub, führte wohl nur diesen einen Zweig mit sich und brachte doch den ganzen Wald herein.
„Herr König“, sagte er nicht ohne Kümmernis, doch auch nicht ohne eitle Schmeichelei der eigenen Sache, „mit diesem Zeichen grüßt Dich meine Heimat. Diese Heimat, der Wald, bereitet dem Menschen das Leben: er gibt ihnen das Gerüst, sich das Haus zu bauen, und er schickt ihnen auf den Herd den Brand. Haus und Herd sind uns das Höchste: sie zu besitzen, höchstes Ziel; sie zu beschirmen und verteidigen, höchstes Recht. Höchster Lohn aber ist, nach Kampf und Sieg mit einem solchen Zweig am Helm wieder zu Haus und Herd heimzukehren. Herr König, nicht dieser Zweig allein, ein Wald von Zweigen ist Dein Besitz und Ruhm!“
Als vierter erschien der Knabe, der in der vorderen Pfalz zuhause war, dort, wo immer Sommer ist, dass man die Gegend auch gut und leicht die Sommerpfalz nennen könnte, und wo neben allen sonstigen Früchten des Bodens und der Bäume auch seltenere Dinge geraten, von denen jetzt zu hören sein wird. Seiner Sache ganz sicher, trat der Knabe ein wenig wichtig, wenn nicht gar protzig, vor den König.
„Nicht mit den gewöhnlichen Früchten, Herr König“, sagte er mit der leichten Prahlerei, die den vorderen Pfälzern angeboren ist, „nicht mit dem Alltag will sich mein Land begnügen. Bewahre nein! Mein Land bietet dem Herrn König“, damit schlug er die Decke seines Korbes zurück, „andere Dinge, wie sie sonst keine Gegend Deutschlands gedeihen lässt: Kastanien, Mandeln, Feigen, Datteln, Zitronen. Herr König, vernimm daraus: die Sonne des Südens steht auch über Deinem Land.“
Von allen diesen seltenen Köstlichkeiten hatte der Schüler die schönsten Proben mitgebracht. Aber des Königs Herz blieb auch davon unberührt, und dem Knaben aus dem Westrich fiel es noch düsterer in den Sinn, dass im Schatten von soviel Sommer und Sonne nur Steine und Disteln wachsen können.
Der Freitag brachte den Knaben aus der Haardt zurück. Er hatte etwas Aufenthalt gehabt und auf die Beerenlese warten müssen. Deshalb war ihm auch der aus der Sommerpfalz zuvorgekommen. Er hielt die kürzeste Rede von allen, doch fehlte bei aller Sparsamkeit der Worte auch hier nicht ein kleiner Schuss Eitelkeit.
„Dem Herrn König“, sagte er und öffnete seinen Korb, „dem Herrn König die köstlichsten aller Früchte!“
In dem Korb aber lagen die herrlichsten Trauben, wie sie gleich schön und gleich golden nur noch im Paradies gewachsen sein konnten. Doch, wenn auch der Prediger schon lehrte, der Wein müsse die Lebendigen erfreuen, das Herz des Königs blieb ungerührt.
Noch fehlte der Knabe, der an den Rhein gereist war. Er hatte von allen den weitesten Weg und kam erst am Samstag zurück. Einen silberschimmernden Fisch brachte er dem König zum Geschenk. Viele schüttelten darüber den Kopf und meinten: ein Fisch, nur ein Fisch? Fische gibt es auch im Woog. Allein, mit diesem Fisch hatte es seine Besonderheit, das sollten die Zweifler und Nörgler auch gleich hören.
„Dieser Fisch, Herr König“, sagte er, er sagte es ganz deutlich nicht nur zum König hin, sondern auch für die Ohren in der Runde, „dieser Fisch ist nur ein Zeichen. Als Gruß schickt ihn Dir der große Strom, dessen Wasser irgendwo aus der Ferne kommen und wieder irgendwo in eine andere Ferne ziehen und die, wo sie auch zwischen Quelle und Mündung an das Ufer schlagen, immer nur Deine Länder, Herr König, nur Deine Länder schauen. Der Strom liebt die Ferne, er und alle Wesen, die ihm verbunden sind: unten, über dem Grund der Fisch, oben auf dem Rücken das Schiff, darüber, am Himmel die Wolke und zur Seite, am Ufer wir selbst, seine Menschen. Wir Menschen des Stroms sind Menschen der Sehnsucht und Ferne und verkümmern in der Enge, sterben an ihr. Kann Dich, Herr König, der Strom nicht locken, seine Ferne nicht, nicht die segelnde Wolke? Lasse das Herz nicht eingesperrt sein, Herr König!“
Dem armen Knaben aus dem Westrich war über dieser Rede etwas Wunderliches begegnet. Mitteninne hatte es ihn plötzlich und gleich mit heftigster Gewalt überfallen, etwas, das er vordem nie gekannt und gefühlt: eine fremde Sehnsucht nach Strom und Ferne, ein lustvoll schmerzendes Fernweh nach den weiten Ländern des Königs, an denen die fischträchtigen Wasser und die Schiffe und die Wolken vorüberziehen. Das lockte und rauschte ihm im Blut und schoss über ihn hinweg, dass er davon fieberte und zitterte.
Dem König aber, dem diese Rede gegolten hatte und dessen Sinn doch immer gerne nach fremden Ländern und Himmeln, vor allem jenseits der Alpen gestanden war, ihm tönte dieses Locken nicht. Unbewegt und unbeweglich, mit wächsernem Gesicht, eine welkende Blume, saß der herzwunde König auf dem Thron, ein Bild verbleichenden Prunks, zum Erbarmen anzusehen.
Nun sahen die Königsleute, die der elende Anblick ihres Königs jammerte, nach dem letzten der sieben Knaben wie nach einer letzten Hoffnung aus.
So kam es, dass in dem Wettstreit der Knaben die Hoffnung auf einen fiel, der unter ihnen der ärmste war und nichts aufzuweisen hatte als im Herzen das Mitleid und in den Händen taube Steine und Disteln.
Diesen aber, den armen Knaben aus dem Westrich, den das Mitleid um den König krank und das Fernweh nur noch kränker machte, den erdrückte fast das Gewicht, mit dem die vielen fordernden Blicke auf ihm lagen. Und wie an jedem der vergangenen Tage trieb ihn die Not in die Kapelle, wo er sich unter das Lächeln der Muttergottes stellte.
„Sie werden mich morgen mit Steinen werfen und mit Disteln schlagen“, klagte er dem Muttergottesbild, „aber das sollte mir gleichgültig sein, wenn ich dem König damit helfen könnte.“
Traurig ließ er den Kopf hängen.
„Du möchtest dem König etwas schenken, allein nur um ihm zu helfen?“ meinte das Muttergottesbild.
„Wie könnte es anders sein?“ blickte der Knabe erstaunt auf. „Allein um des Königs willen. Aber -, mein Land hat nichts zu verschenken.“
„Dein Land nicht“, bestätigte die Muttergottes. „Aber Du!“
„Ich?“ fuhr der Knabe erschrocken auf, um dann voll Bitterkeit hinzuzusetzen: „Ich habe für den König wirklich nichts, als dass ich für ihn leide . . .“
„Du leidest . . .“
„. . . weil ich ihn liebe.“
Da strahlte das Lächeln noch heller um das Muttergottesbild.
„Siehe“, sprach das Lächeln, „dann bist Du, ein armer Knabe, noch reicher als der mächtige König selbst. Denn Du hast etwas zu verschenken, was der König nicht besitzt.“
„Der König . . . nicht besitzt?“ staunte der Knabe.
„Ein Herz.“
„. . . ein Herz –“, lallte er und erkannte verwundert, dass der König mit dem freud- und leidlos toten Herzen noch ärmer ist als er, der arme Knabe aus dem Westrich.
„Dann will ich mein Herz dem König schenken!“ jubelte er freudig hinaus.
Gleich darauf schlug es seinen Jubel aber wieder nieder, weil er nicht wusste, wie er das beginnen sollte.
„So hilf mir doch!“ bettelte er zu dem Muttergottesbild.
„Dein Herz willst Du dem König schenken?“ fragte die Muttergottes.
„Das will ich!“ antwortete er fest und ernst.
„Auch wenn Du darüber sterben müsstest?“ fragte die Muttergottes weiter.
„Auch dann!“ sagte der Knabe unbesonnen und bestimmt und bettelte schon wieder von neuem: „Du kannst mir helfen!“
Nun strahlte die Muttergottes in ihrem goldensten Lächeln und sagte: „Ja, ich will Dich unterweisen.“
Damit wandte sie sich seitwärts und nahm dem kleinen, lustigen Engel, der über ihrer linken Schulter saß, die Geige und den Bogen aus den Händen und reichte sie dem armen Knaben aus dem Westrich.
„Nimm dies“, sagte sie, „nun brauchst Du nur die Saiten zu streichen und gleich wird Dein Herz über diesen Saiten klingen, traurig und froh, mutig und bang, wie es eben Dir selbst ums Herz dabei ist. Und dein Herz wird über diesem Klingen hinübergleiten zu dem König und in ihn einströmen und den König jauchzen und jubeln oder verzagt und traurig machen: denn es ist ja Dein Herz, das die Saiten rührt.“
Da fasste der arme Knabe mit beiden Händen nach Fiedel und Bogen und eilte, denn es war darüber Morgen geworden, hinüber zu dem König, wo sie bereits auf ihn warteten. Als sie ihn aber mit nichts als mit Fiedel und Bogen ankommen sahen, da wollte das nicht in ihre Köpfe und sie murrten und schalten, während die anderen Knaben in ihrem falschen Hochmut heimlich über so viel Einfalt gar kicherten und spotteten.
Der Knabe aus dem Westrich aber sah dieses feindselige, boshafte Wesen um sich überhaupt nicht. Unbeirrt trat er hinzu, im Sinn nur den einzigen Gedanken, dem armen König dort sein Herz über die Saiten zu schicken.
Und wie er, den Bogen ansetzend, dachte, dass es nun Sonntag wäre, kam es ganz feierlich aus der Geige. Das sang und jubilierte wie von einem vielstimmigen Choral und löste – o Wunder! – das Murren und Zagen der Menschen und das Kichern der falschen Knaben als neue Stimmen im Gewebe seiner Harmonien auf, dass die Alten in diesem Bann Leid und Kummer vergaßen und die eitlen Knaben beschämt beiseite standen.
Dem Knaben mit der Geige aber war, als säßen seine Gedanken auf den Saiten und er brauchte nur daran zu rühren, um sie reden und schwingen zu lassen. Und als er, immerfort spielend, dachte, wie doch der arme König ohne Sonntag und überhaupt ohne Freude würde leben müssen und wie ihm alle, auch er, hatten helfen wollen, und er, der arme Knabe aus dem Westrich, doch nichts zu geben hatte als Steine und Disteln -, als so das echte Mitleid über die Saiten strich, dass es das kühlste Herz erwärmen musste, da geschah an dem König das Wunder der Widergeburt, wie es nach dem Winter der Frühling und nach jeder Nacht der Morgen ist.
Wie das welke Haupt der von Tau und Sonnenstrahl getroffenen Blume hob sich der Kopf des Königs. Die eingefallenen Wangen füllten sich und die Stirn glättete sich, als fahre eine unsichtbare Hand darüber hin. Das matte, fahle Aschenhaar rollte und färbte sich und fiel schließlich wieder in goldschimmernden Locken auf die Schultern.
Und weil der Knabe daran dachte, wie sich das Lächeln um den Mund der Muttergottes kräuselte und wie dieses Lächeln voll Güte in ihren Augen stand, kam es, dass dem König das Blut in die leeren Lippen drang und von den trüb verhangenen Augen Schleier um Schleier fiel, bis ihre alte blaue Farbe wieder dahinter hervorkam.
Noch aber war alles unbelebt an dem König, die Stirn, der Mund, das Auge.
Denn alles Leben kommt vom Herzen.
Puppenhaft leer und tot war das Gesicht des Königs dem Knaben zugewandt.
Dem Knaben aber fiel in diesem Augenblick ein, was er der Muttergottes gelobt hatte: dass er dem König ja noch sein eigenes Herz schenken wollte. Und wie er eben noch erschrak, dass er darauf beinahe vergessen hätte, tat es einen Knall, als wäre eine Fessel gesprungen, und plumpste gleich danach wie von einem schweren Stein mit lautem Poltern auf den Boden.
Des Königs Herz. –
Da schoss das Leben in den König ein.
Mit blauen Strahlen kehrte es in das Auge zurück, zog, als erwachte es aus tiefem Schlaf, mit einem langen Seufzer durch die Brust, löste den bösen, zauberischen Bann von seinen starren Gliedern.
Allein nicht nur dem König, der ganzen Welt kehrte der Atem und Pulsschlag zurück.
Die Vögel im Astwerk fanden ihre Stimmen wieder, die Tiere tummelten erneut durch den Wald, im grünen Woog schnalzten und schossen silbriger denn je die Fische. Die Dornenhecken sprangen auf und die Rosen blühten. Auf den Wiesen sprossten die Gräser und die Blumen läuteten in allen Farben und Stimmen ihrer Blütenglocken.
Und in das Glockenläuten der Blumen und das Tirilieren der Vögel und das Singen des Windes mischte sich der Jubel der Königsleute, als der König in jugendfrischer Blüte und im Glanz der alten Herrlichkeit auf den armen Knaben aus dem Westrich zuschritt und ihn, was keinem zuvor noch begegnet war, in seine Arme schloss.
Alle lobten und priesen ihn, und seine Gesellen aus dem Norden und Süden, von der Haardt, aus dem Wald, vom Strom und aus der Sommerpfalz gaben sich in dem Wettstreit als von ihm, dem armen Knaben aus dem Westrich, wo nur Steine und Disteln wachsen, gerne und freudig geschlagen.
Denn der arme Knabe aus dem Westrich war plötzlich reich geworden: er hatte nicht nur Gewalt über des Königs Herz, sondern über alle Menschenherzen überhaupt. Er brauchte nur die Saiten zu rühren, lustig oder klagend, traurig oder froh, - sie alle folgten ihm willig, wohin er sie führte.
Der König dachte nicht anders, als dass der Knabe bei ihm bleiben würde. Aber – obgleich er ihn mit Geschenken überschüttete und ihm hohe Ehren und Würden an seinem Hof antrug, der Knabe lehnte alle ehrenden Geschenke und Würden ab, denn im Westrich sind sie nicht eitel, und gehorchte nur einem Gebot, das war das Gebot seines Herzens. Und dieses Herz zog ihn zu den Menschen, um ihnen das Glück des Lächelns wiederzubringen. Und das gleiche Herz zog ihn in die Ferne, lockte ihn zu dem Strom und den Schiffen und Wolken.
Und so wanderte er mit der fremden Sehnsucht im Herzen durch das Land und kam zu dem Strom und folgte den Wolken, und niemand weiß, in welche Fernen dieses Herz ihn noch überall hingeführt hat. Wohin er aber kam, war er von den Menschen gerne gesehen, denn er brachte ihnen das Lächeln, das beiderlei Lächeln: wo Leid war, machte er es leicht und heiter, wo Übermut, dort dämpfte er zu weiser Einsicht. Er brauchte nur die Saiten zu rühren, lustig oder mahnend, traurig oder froh, immer folgten ihm die Menschen willig und dankbar. Denn es war ja sein Herz, das die Saiten rührte.
Und als dieses Herz von den weiten Gängen durch die Welt müde geworden war, kehrte es heim in den Westrich. Dort wanderte in seinen letzten Jahren ein alter Mann von Ort zu Ort und lehrte die Knaben das Fiedeln und Bogenstreichen, damit das Lächeln nicht aus der Welt verloren gehe.
Viele der Knaben haben von dem Alten das Fiedeln gelernt, wieviele mögen erst noch seitdem in den Jahrhunderten daraus geworden sein! Denn, wenn auch die Herrlichkeit des Königs verblichen, sein Schloss verfallen und in der Kapelle das liebliche Madonnenbild von den Würmern zu Mehl und Staub zerfressen ist, so blieb doch in der schönen Pfalz der steinige Westrich, aus dem bis auf den heutigen Tag die Musikanten kommen, die auf ihren wanderfrohen Wegen durch die Welt den Menschen das Lächeln bringen.
3. Traubenmadonna
War da in der Pfalz einmal – lieber Gott!, wie leicht vergisst sich so etwas, zu dem so etwas Zerrinnendes und Zerbrechliches wie Jahr und Tag und Ort – war da also im Pfälzerwald in ganz früher Zeit ein Kloster mit frommen Klosterleuten, die Gott zu Preis und Ehr eine neue Kirche errichten wollten, nachdem die alte zu klein und eng und überdies mit ihren runden Fensterbogen und den ungehobelten Säulen reichlich altmodisch geworden war.
Man müsse mit der Zeit gehen, meinte der Abt, ein kluger Herr, der die Seinen bei aller frommen Abgeschlossenheit doch mit weltoffenem Sinn regierte. „Tempora mutantur“ sagte er und bestellte bei den Bauleuten anstelle der muffig-dunklen Kapelle ein lichtes Gotteshaus, eines in dem neuen spitzbogigen Stil mit hohen Fenstern und großen bunten Glasscheiben, durch die der Himmel in allen Farben ins Kirchenschiff fällt und seine Herrlichkeit in malerischen blauen, roten, grünen Kringeln und Flecken an die Wände und über den Boden verstreut. Heilige Geschichten waren auf den Fenstern abgebildet und lilienschwenkende Engel sangen Gottes Lob und Halleluja, und was sie sangen, stand mit goldenen Lettern auf langen, weißen Spruchbändern, die ihnen in kühn bewegten Schlingen und Wellen aus dem Mund flatterten. Solch ein Fenster war der Kirche nicht nur eine fromme Zierde, sondern hatte auch sonst sein Gutes. So etwa, wenn es drinnen im gedämpften Licht einen anwandeln wollte, aus den dumpfen Banden des Gebets einen Seitenblick, und auch nur einen noch so kurzen, in den lichten, von frischem Vogelsang durchzogenen Frühlingsmorgen zu tun, dann blieb dieser Blick, bevor er der Seele Schaden ausrichten konnte, in der farbigen Netzhaut der Kirchenaugen stecken und die Engel mit den flatternden Spruchbändern im Mund mahnten rechtzeitig zu Umkehr und Besinnung.
All das hatte der kluge Abt in seine Rechnung gezogen und eingerichtet zur Schönheit seiner Kirche und zum Heil ihrer Gläubigen.
Mehr noch tat er.
Ein Lettner war errichtet worden, und dort und auch vor den Pfeilern ringsum in der Kirche standen die in Sandstein gemeißelten Bilder der Apostel und der anderen Heiligen, unter ihnen selbstverständlich auch St. Pirminius, St. Disibodus und St. Remigius; denn die pfälzische Dreiheiligkeit durfte im Chor der Seligen nicht fehlen.
Dass sich nun dazu noch ein Vierter gesellte, einer der wegen seines niederen Geschäfts in jenen hohen, oberen Kreisen nicht ganz voll genommen wird, bei den Pfälzern dafür aber umso angesehener ist, dass sich auch Cyriak, der Weinheilige von Lindenberg in jenem erlauchten Kreis fand, das war gar nicht so recht nach dem gehobenen Geschmack des Abts. Er hatte deshalb mit dem jungen Meister, der wegen seines hohen Künstlerruhms zu diesem Werk berufen worden war, ein hartes und zähes Hin und Wider gegeben. Dass sich also – sage ich – Cyriak dann doch ganz unerwartet in den Kreis der Erlauchten gestellt sah, das dankte er allein einem besonders glücklichen Umstand: der junge dickschädelige Meister war ein Landsmann aus Deidesheim. Der hatte es durchgesetzt, dass Cyriak ein Plätzchen fand, bescheiden und – der Abt hatte das in letztem Aufbegehren so ausbedungen – in deutlichem Abstand, auch etwas niedriger postiert wie die anderen, dafür wieder an einer Stelle, die keinem angemessener war als ihm, dem Cyriak: just gegenüber dem Messschrank, wo sein hütender Blick fortan auf dem dort verwahrten Wein liegen konnte.
Denn neben der Landsmannschaft war es der Wein, der die beiden, den Cyriak und den Bildhauer, in Dienst und Lust miteinander verband: den Cyriak im Dienst, den jungen Meister zur Lust.
Doch auch das muss gesagt sein: bei allem Verbindenden, mit dem der Wein sie zusammenhielt, war ein Unterschied in der Stellung unserer Freunde: war der Wein dem Cyriak eine Stärke, dem jungen Meister war er bestimmt die schwache Seite. Aber -, wer wollte ihm daraus einen Vorwurf machen? Einmal ist das Bildhauerhandwerk ein durstiges Geschäft, das macht schon der viele Staub, den man darüber schlucken muss. Und dann ist man nicht ungestraft eines pfälzischen Wingertsmanns unverfälschter Sohn; dagegen kann sich einer drehen und wenden, wie er will, es ist verlorene Liebesmüh. Und schließlich hatte man auf den weiten Reisen durch Burgund und Tirol, im Elsass und am Rhein nicht umsonst durch ebenso viele Weingläser und durch Kirchenfenster gesehen, um zu prüfen und auszulesen und endlich unter dieser Vielfarbigkeit dann doch das Deidesheimer Gold als die schönste unter den Farben herauszufinden. Nein, da kann keiner böse sein, und auch der kluge Abt sah bei der tüchtigen Hand des jungen Meisters gleich mit zwei geschlossenen Augen über so viel durstige Weinlustigkeit hinweg.
Somit war alles in Ordnung. Mancher Schoppengruß wurde aus der Nische im Kellergewölbe hinaufgeschickt zu Cyriak, der mit dem Wingertsbalken bewaffnet droben vor dem Messschrank auf dem Posten stand. Und es wäre auch weiter gut gegangen, hätte es nicht eines Tages unerwartet Widerstand von einer Seite, mit der man es am wenigsten verschütten durfte: nach innigster und feuchtester Vertrautheit war es mit dem Kellermeister zum Zerwürfnis gekommen. Der Stein aber, an dem diese Freundschaft zerschellte, dieser Stein, an dem der erboste Kellermeister Anstoß nahm, dieser Unglücksstein saß über dem Eingangsportal zur Kirche und trug das Konterfei des Kellermeisters im Weltgericht.
Solch ein Weltgericht findet sich an allen berühmten Kirchenbauten jener Zeit, und weil unser Abt mit seinem Bau jenen Kunstwerken wenngleich an Größe, so doch nicht an Schönheit nachzustehen dachte, hatte er dem jungen Meister als vornehmstes Schmuckstück des Baus schließlich auch ein solches Werk aufgetragen, das mit Himmel und Hölle, den Heiligen zuoberst und den Teufeln zuunterst, mit Seligen und Verdammten, mit Lobpreisen und Zähneklappern und – über dem Ganzen thronend und richtend – dem lieben Gott an der Spitze den Tag des Jüngsten Gerichts darstellt.
Auch unser Meister hielt sich an den Kanon solcher Werke, und doch hatte das seine eine eigene Note. Das war, dass er den Geist und Hauch seiner Heimat darin atmen, ihre Farbe, ihre Patina durchschimmern ließ. In keinem Stück fehlte der pfälzische Odem, den derben Bauernschädeln der Apostel so wenig als etwa einem Requisit wie -, nun sagen wir einmal dem Sessel Gottes. Der liebe Gott saß – das konnte gar nicht anders sein -, die gleichschwebende Waage der Gerechtigkeit in der Hand, in einem bequemen, breiten pfälzer Lehnstuhl. Der Gestalt des Josef gab der Meister gar das Gesicht des eigenen Vaters und machte aus dem derben, ungeschlachten Zimmermann einen launigen, kurzweiligen Weingärtner mit Sesel und Rebstock. Überhaupt rankte sich der Wein mit reichverschlungenen Ästen, mit üppigem Blattwerk und vollen, runden Beeren durch den weitgeöffneten Himmelsraum. Nur eben vom Wurzelwerk hingen einige Stränge und Fasern in die Unterwelt, denn etwas Anteil sollte auch der Teufel an dem Weinstock haben. Wie aber nun wieder der Teufel mit schmerzverzerrter Fratze dem entschwundenen Weinstock nachstarrte und sich – in seiner Wut vergessen – gar in den eigenen Schwanz biss, das konnte nur das Werk eines Schalkes sein, wie es die Pfälzer sind. Verspielt, wie eines der Spruchbänder aus den Engelsmündern, war dem Teufel der Schwanz durch das Maul und drumherum geschlungen.
„Suum Cuique“, hatte der junge Meister damals seinem Freund im Keller den Zusammenhang erklärt.
Und wenn er überdies auch so manches Mönchgesicht in die zähneklappernde Unterwelt versetzt hatte, so war das daher gekommen, dass seinem geraden Sinn der giftend-geifernde Eiferer nicht weniger zuwider war wie der lässig-laue Leichtfuß. Seine Spottlust machte vor keiner noch so protzigen Würde halt, allerdings – und das war schon bedenklicher – auch nicht vor seinen Freunden. Und so war Freund Kellermeister in die Unterwelt geraten, um hier, schwerleibig und satt, rittlings auf einem gewaltigen Fass zu sitzen.
Aber es war nicht so sehr die Versetzung in die Unterwelt, die den guten Kellermeister so giftete, sondern etwas anderes: auf den Schultern seines leiblichen Konterfeis – es war unverkennbar das seine – saß der dicke Kopf eines – Wasserfroschs! Ein Wasserfrosch ist eine böse Anspielung, wenn einer Kellermeister ist.
Wasser -?!
Brrr! Wasser war ihm seiner Lebtag weder an den Wein noch in das Maul gekommen.
„Dem Ehrabschneider werd ich Wasser geben,“ knurrte er böse und begab sich in den kleinen Keller, den er sonst eigentlich nur an den höchsten Feiertagen aufschloss.
Er als Wasserfrosch!
Das war nur im kleinen Keller auszumachen. Nur dort.
Und so oft er hinfort an dem üblen Machwerk des verräterischen Freundes vorüberging, suchte er anschließend in dem kleinen Keller für das heiß gewordene Herz Kühlung und Trost.
Den Freund selbst bekam er in jener Zeit allerdings nicht zu Gesicht. Den hatte gerade wieder einmal die Schaffwut gepackt, dass alles um ihn, Kloster, Abt und Kellermeister, unbemerkt versunken war. Er hatte jetzt das Letzte unter dem Meißel, die Muttergottes selbst. Tag und Nacht stand er wieder einmal in der Werkstatt. Vergaß die Zeit, sich selbst, das Essen und den Durst.
Das alles kann einer vergessen, wenn seine Stunde ihn hat.
Dem jungen Meister aber war aus den Träumen der eingesponnenen Tage und aus den sternbetauten Gesichten der Nacht ein wunderbares Bild erstanden, ein Bild der Muttergottes mit dem lieblichsten der Gesichter, das jener damals sah.
„So musste meine Mutter ausgesehen haben“, meinte für sich der junge Meister, über dessen Geburt einst das zarte Leben der Mutter zerbrochen war.
In warmer Liebe neigte sich die Muttergottes zu dem Kind, das verlangend die Arme ausstreckte, dass es schien, als fasste das Kind nach dem lieblich schwebenden Gesicht. Aber es war nicht das Gesicht, wonach das Kind haschte, es war die Hand der Muttergottes, die sie erhoben hatte, als würde sie etwas darin halten, irgend etwas, was ein Kind lockte, danach zu greifen und zu zappeln. Was aber die erhobene Hand der Muttergottes hielt, blieb unerkennbar.
Es war noch nicht ausgeführt.
Darüber eben war die Arbeit ins Stocken geraten und der Meister selbst schon recht ärgerlich, weil er damit aber auch gar nicht ins Reine kommen konnte.
Da ließ er in einer trotzigen Stunde plötzlich den Hammer fallen und besann sich über der eingestaubten Zunge auf den Weg zu dem Freund in die Kellernische.
Und als der junge Meister, ahnungslos der Umwälzung, die sich unterdessen dort vollzogen hatte, in die Kellernische kam, um den matten Blick am Deidesheimer Gold zu stärken und den trockenen Staub von der Kehle zu schwenken, da hatte zu seiner nicht gelinden Verwunderung das Gold in der Zwischenzeit alle Farbe verloren, war hell und dünnflüssig geworden und wog auf der erwartungsbereiten Zunge nicht schwerer als . . .
„Wasser -!“ spie er entsetzt den etwas kräftig geratenen Schluck wieder von sich und starrte dem Kellermeister fassungslos ins Gesicht.
Der aber verzog keine Miene.
„Richtig“, bestätigte er in größter Seelenruhe und nickte noch mit dem Kopf dazu. „Pures, blankes Wasser.“
„Und das – das mir?“ verzweifelte der Bildhauer. „Suum cuique“, entgegnete der Kellermeister voll vielsagender Anzüglichkeit. „Wasser, ha, Wasser ist ganz nach meinem Froschgeschmack.“
Da merkte der Bildhauer, wohin sein Übermut ihn diesmal geführt hatte: aufs Trockene.
Ja, aufs Trockene hatte es ihn gesetzt, unverhofft und recht im unpassendsten Augenblick, da er doch eigentlich schon auf dem Trockenen saß mit seinem Planen und Denken. Und gerade das Deidesheimer Gold sollte ihn doch wieder flott machen.
Der Kellermeister musste helfen!
Allein, obschon er ihm seine Not in den brennendsten Farben schilderte und ihm, dem Freund, vorhielt, wie sehr er sich durch weitere Hartnäckigkeit ins Unrecht setze: das Herz des Kellermeisters blieb ebenso verschlossen wie das Spundloch vor dem Deidesheimer Gold.
„Unrecht -, Unrecht tut man Dir?“ höhnte der Kellermeister. „Nun denn, Du Gerechter, tröste Dich. Was soll Dir, einem Gerechten, auch erst meine Hilfe! Dem Gerechten gibt’s der Herr im Schlaf.“
Zu dieser langen Rede funkelte er aus vorgewölbten Augen und hatte in seiner Giftigkeit nun wirklich das Aussehen eines hässlichen Froschs.
Vom Ärger, mehr noch von Durst geplagt, warf sich der junge Meister müde auf sein Lager und fand auch nach den letzten angestrengten Tagen und Nächten bald den Schlaf. Nur sollte selbst dieser Schlaf von neuen Schrecken durchquält sein.
Ihm träumte, dass er vom Kloster geschieden und in die Ferne gezogen wäre, in eine unbekannte Gegend voll Wäldern und Wiesen, und dass er unter einem luftigen Himmel seines Wegs ging, als ihn ein unerwarteter Flusslauf aufhielt. Er musste, ja, es drängte ihn über diesen Fluss! Da er aber in dieser menschenleeren Gegend weit und breit weder Steg noch Fähre gab, blieb ihm nichts übrig, als das Wasser zu durchwaten. Obschon der Fluss gegen die Mitte zu immer tiefer und tiefer wurde, ließ er sich doch nicht entmutigen, hielt sorgsam den Hals immer höher gereckt und schnappte nach Luft. Noch immer war das andere Ufer nicht zu sehen. Dafür schwoll das Wasser höher und höher. Fest presste er die Lippen aufeinander. Nur nicht schlucken!, dachte er. Nur nicht schlucken müssen -, aber da war es schon, das Wasser. Rasch schloss er die Augen.
Wasser -!
Da hatte sich das Bild auch schon gewandelt.
Bei geschlossenen Augen fand er sich, auf dem Rücken liegend, an einem fremden Ufer. Sein Atem ging heiß und gepresst, als säße ihm ein drückender Alp auf der Brust. Immer noch hielt er den Mund fest geschlossen, voll Abwehr und Abscheu gegen das zudringliche Wasser. Da bemerkte er, die Augen aufschlagend, dass der Kellermeister rittlings auf ihm hockte und, mit dem garstigen Froschgesicht über ihm geduckt, versuchte, aus einem riesigen Gefäß ihm, dem Wehrlosen, gewaltsam Wasser in den Mund zu gießen.
Er wehrte, bäumte, stemmte sich dagegen.
Vergebens.
Das Gewicht des schwerleibigen Kellermeisters drückte ihm schier den Brustkorb ein. Hämisch grinste das Froschgesicht.
„Suum cuique!“ grinste das Froschgesicht. „Wasser ist nach meinem Froschgeschmack.“
Wasser -!
Das Entsetzen gab ihm die Kraft, einen Arm aus der Umklammerung zu befreien. Indem er diesen Arm zum Schlag erhob, wuchs ihm die geballte Faust zum Hammer, der tödlich auf das Froschhaupt niederfuhr.
„Suum cuique“, hörte er dazu eine fremde Stimme sagen und fand sich im Umsehen vor dem Teufel, als wäre der Teufel aus der Froschhaut geschlüpft, die schlaff und zusammengefallen vor seinen Füßen lag.
Auch sonst hatte sich bereits wieder alles um ihn verändert.
Offenbar befand er sich inmitten der wild rebellierenden Unterwelt.
Verdammt!, nun hatte er sich auch noch den Kopf angestoßen. Da hing doch etwas von der Decke herab? Natürlich, die Wurzel eines Rebstocks.
Und da, war das nicht ein bekanntes Gesicht gewesen? Und jetzt noch eins und dort wieder eins. „Auch du hier?“ grinsten die Gesichter höhnend.
Affenfratzen fletschten ihn an. In einer Ecke balgte und würgte sich ein Klumpen, schrie, kratzte, biss. Vom Boden zischte ihn aufgereckten Leibes eine Schlange an. Überhaupt huschte und kroch es von Nattern, Lurchen und anderem ekligen Gewürm. Vor ihm aber, im Schein des Höllenfeuers, kauerte der Teufel, ganz seiner Beschäftigung hingegeben: er schrieb eifrig mit der Quaste des eigenen Schwanzes in einer Pergamentrolle, die so lang war, dass sie über sein Knie herab noch ein Stück des Bodens davor bedeckte. Es musste eine teuflische Liste sein, weil sich der Höllenschwanz daran so lustvoll blähte und ringelte.
„Suum cuique!“ wiederholte der Teufel, als setzte er zugleich mit diesem Satz den Endpunkt unter das Geschreibsel, und hielt unserm Freund die Liste unter die Nase, der sie, verblüfft, als sein eigenes Sünden- und Trinkregister erkannte.
Als hätte das Geschehen im Weltall nur eben auf diesen Augenblick gewartet, blies es jetzt auf tausend Fanfaren zum letzten Gericht.
Wehe!
Schlagartig war das Grinsen, das höhnisch-hämische, ausgelöscht, ringsum setzte Winseln, Stöhnen, Heulen, Zähneklappern ein, dass es unseren armen Freund wie unter einer Gänsehaut fror und gruselte. Dreizehn Teufelsgehilfen zerrten ihn aus dem Höllenraum in die Höhe, wo er vor dem strahlenden Licht, das ihn so plötzlich umflutete, geblendet die Augen schließen musste. Als er nach einer Weile sehend geworden war, fand er sich im Himmel. Und siehe!, der Raum, die Seligen, ihr Aussehen, ihre Gewänder, alles war, wie er es sich ausgedacht hatte. Selbst der Sessel, auf dem – die Waage haltend – Gott thronte, selbst der Sessel stimmte mit seinem Vorbild überein.
In der Freude darüber vergaß er, dass er als Angeklagter vor der Gotteswaage stand und nicht etwa wie einer, der Lob zu erwarten hat. Er achtete drum auch nicht auf die eintönig schnurrende Stimme des Höllenherrn, der aus dem Pergament die lange Reihe der Schoppen und der Viertel und der halben Viertel verlas, mit denen er den Leib ergötzt und die Seele belastet hatte.
Unberührt, als ginge ihn das gar nichts an, und neugierig sah sich der junge Meister in dem versammelten Kreis um und fand zu seinem Vergnügen unter den Seligen auch die pfälzische Dreiheiligkeit, den Pirminius, den Disibodus und den Remigius. Dass die Dreiheiligkeit dagegen über dieses Wiedersehen weniger beglückt, ja fast betreten und ernst dreinschaute und dabei gar seinen Blick zu meiden suchte, das bekümmerte ihn weiter nicht. In seiner Unschuld dachte er, dass ein solches Benehmen wohl den Ordnungsregeln in diesen Bezirken entspreche.
Dagegen versuchte es ihn durch die Lücke zwischen den heiligen Köpfen des Disibod und Pirmin immerfort heimlich anzublinzeln, und jetzt, endlich, hatte ihn der Blick erfasst: Cyriak grüßte den Sünder.
Cyriak! Heiliger Cyriak! Du Walter des Deidesheimer Goldes!
Während das Herz des jungen Meisters jubilierte, stand es im Vordergrund der Szene gar nicht so erfreulich um seine Sache: triumphierend hatte der Teufel am Ende seiner Rede das belastende Pergament auf die Waagschale geschleudert, dass diese unter der Last der schweren Sündenweine tief herabgesunken war.
Und nicht genug damit: plötzlich, niemand hatte recht gesehen woher und wieso, war der froschhäuptige Kellermeister mit einem gewaltigen Satz auf die gleiche Schale gehüpft und hockte nun dort – eine erschwerende Anklage! – breit und großspurig wie das Siegel auf dem Pergament.
Die Gesichter der pfälzischen Dreiheiligkeit waren noch länger, noch hoffnungsloser geworden.
Auch unserem Bildhauer war der Anblick des Froschkopfes keine angenehme Erinnerung.
Der liebe Gott aber – er hatte übrigens die wohlwollenden Augen des Abtes und in der Stimme den gleichen wohllautenden Ton -, er allein sprach dem jungen Sünder gütlich zu und lud ihn ein, nun seinerseits zur Entlastung seiner Sündenschale Zeugen seiner Guttaten beizubringen.
Da allerdings war guter Rat teuer.
Mit unsicherem Blick musterte der Meister die Versammlung. Er hatte wenig Hoffnung.
Da öffnete sich der Kreis der Heiligen und hervor traten Pirminius, Disibodus und Remigius, die pfälzische Dreiheiligkeit.
Der junge Meister atmete auf.
Drei so vornehme Fürsprecher hatten ein Gewicht in die Waagschale zu legen.
„Er ist unser Landsmann!“ sagten sie. Mehr nicht. Aber wie sie das sagten: das klang im Himmelsraum wie der vielstimmige Chor aller Pfälzer in der Welt.
Und was dabei geschah, war noch merkwürdiger: indem sie sprachen, sprang jedem von ihnen eine dicke, goldene Münze mit dem aufgeprägten Eigenbild aus dem Mund in die Guttatschale.
Drei Münzen fielen in die Schale.
Alles wartete darauf, wie nun der Froschkopf vom Gewicht der drei goldenen Heiligenköpfe aufgewogen würde.
Doch -, was war das?
Nichts rührte sich, nicht einmal, dass die Schale auch nur merklich wippte.
O weh, da stand es schlecht um unseren jungen Freund, wenn nicht einmal solche gewaltigen Männer wie Disibod, Pirmin und Remigius etwas auszurichten wussten!
Mit gesenkten Häuptern war die pfälzische Dreiheiligkeit zurückgetreten.
Schon hob der liebe Gott die Augenbrauen, wie er es vor einem Gewitter zu tun pflegt. Just in diesem Augenblick zwängte sich einer durch die Menge zum Zeugenplatz, der Cyriak.
Erstaunt sah alles nach dem Alten, der sonst so bescheiden und unscheinbar im Hintergrund stand und nun auf einmal nach dem Mittelpunkt drängte. Wie ein alter, ehrlicher Rebstock krumm und knorrig stand Cyriak, auf das Wingertholz gestützt, vor dem lieben Gott.
Die vielen auf ihn gerichteten Blicke machten ihn verlegen. Er suchte nach einem Anfang.
„Sprich, guter Freund“, suchte ihm der liebe Gott zu helfen, „und gib das Zeichen!“
Da richtete Cyriak den gebeugten Rücken am Wingertsbalken auf, blickte über die Menge und lächelte stolz.
„Seine Zunge“, sagte er, „seine Zunge ist von lauterster Wahrhaftigkeit!“
„Das lässt sich hören“, meinte der liebe Gott und schaute freundlicher drein. Wahrhaftig, ja -, das wollte ihm gefallen.
So legte Cyriak für den jungen Freund sein gutes Wort und noch etwas auf die Waagschale, von dem er sich sein Lebtag nie getrennt hatte: den Wingertsbalken.
Dass drei goldene Heiligenköpfe und ein Wingertsbalken einem Frosch die Waage halten würden, nun, das war billig zu erwarten.
Aber bewahre, nein!
Nichts rührte sich, nicht einen Atemzug lang.
Hilflos, beschämt ob seines ungewohnt vorlauten Wesens zog sich Cyriak in die Deckung hinter den Rücken der pfälzischen Dreiheiligkeit zurück.
Nach menschlichem Ermessen konnte dem armen Sünder nur noch ein Wunder helfen. Weil aber Menschenmaß im Himmel keine Gültigkeit hat und Wunder dort in der Ordnung sind wie bei uns das tägliche Brot, so erstaunte es auch keinen außer unseren Sünder selbst, als in der Minute höchster Ratlosigkeit Maria, das Kind im Arm, hereintrat und geradewegs auf den jungen Meister zuging.
Der erschrak nicht wenig vor dieser Erscheinung. Denn, indem sie näher und ihm schließlich so nahe kam, dass er sie von Angesicht sah, erkannte er stockenden Herzens, dass es seine Muttergottes war, die Muttergottes mit dem lieblichsten der Gesichter, das einer jemals vor die Augen bekam. Es war die Madonna mit dem Gesicht seiner Mutter. Und diese Muttergottes stand nun an der Waage Gottes und hob die Hand.
Ihre Hand hält etwas.
Der Teufel wird ganz bleich und blass davon, was die Hand der Muttergottes hält.
Ihr Mund öffnet sich zum Sprechen.
Es ist Gesang, was dieser Mund spricht.
„Auch er ist mir ein lieber Sohn!“ spricht der Mund.
Was aber die Hand bei diesen Worten auf die Waage legt, so gewichtig, dass die Sündenschale mit Pergament und Frosch in die Höhe schnellt, sieh -!, das ist das Wunderbarste dieses Wunders überhaupt: es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Henkel reifer Trauben.
Trauben aus der Deidesheimer Gemark.
Deidesheimer Gold ist es.
Und Deidesheimer Gold wiegt schwerer als die goldenen Kopfstücke und Wingertsknüppel aller Heiligen zusammen.
Drum sank der Teufel zähneknirschend in den Boden. Beim Anblick dieses Goldes sah er sein Spiel verloren. Sein Pergament, von einem Gütigen Wind erfasst, flatterte durch die Luft und sah so lustig aus wie die weißen Bänder aus den Engelsmündern.
Nur das Froschhaupt gab das Spiel noch nicht auf. Heimtückisch sprang es den jungen Meister an, sprang mit einem solch heftigen Satz gegen seine Brust, dass dieser, der nur auf einem schmalen Wolkenrand stand, das Gleichgewicht verlor und strauchelte.
Unaufhaltsam stürzte er in die Tiefe.
Ein scharfer Luftzug brauste ihm in den Ohren.
Blitzschnell erlebte er noch einmal, wie sich alles so glücklich gewendet hatte.
Ein Henkel reifer Trauben, das war`s gewesen.
Und war nun doch umsonst.
Immer rasender stürzte er durch die Luft.
Bald musste der Aufschlag kommen, das Ende.
Jetzt -!
Dumpfes Poltern und Rumpeln brachte ihn zu sich. Noch hing die dunkle Erinnerung an einen Henkel reifer Trauben über ihm.
Trauben, in der Nacht?
Ja, es war Nacht.
Mondlicht fiel durch das offene Fenster.
Der Luftzug spielte in dem Vorhang.
Und er -, er hockte auf dem Stubenboden vor dem Bett.
Was ist das nur mit den Trauben gewesen? Die Trauben lassen ihn nicht los.
Also aus dem Bett war er gefallen, hatte geträumt . . .
Natürlich Trauben!
Ein schwerer, voller Henkel mit Trauben musste es sein. Das ihm auch das nicht eingefallen war!
Trauben würde er der Madonna in die erhobene Hand geben.
Da hat man sich nun tagelang den Kopf zerbrochen und jetzt, in der Nacht . . .
Plötzlich lachte er laut hinaus.
„Nun hat der Froschkopf von einem Kellermeister doch recht behalten: dem Gerechten gibt’s der Herr im Schlaf!“